Freitag, 6. Oktober 2017

Buddhistische Befreiung bei Nagarjuna oder totaler Nihilismus?

(Aus meinem neuen Buch "Sternstunden des Buddhismus")
Im fundamental wichtigen siebten Kapitel des MMK des großen indischen Meisters geht es um die Dynamik des Lebens und der Welt. Denn ohne dynamische Prozesse gibt es keine Überwindung des Leidens, keine Weiterentwicklung auf dem Achtfachen Pfad und auch keine Alltags-Erleuchtung, also nach Zen-Meister Dogen: "Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen". Eine dogmatische oder gar fundamentalistische Welt-Anschauung führt unweigerlich in menschliche Erstarrung, Resignation und Leiden. Das ist die Botschaft Buddhas.

Wie kann man aber dieses Kapitel hoher Präzision und philosophischer Stringenz entschlüsseln? Zeigen die dramatischen buddhistischen Skandale und Fehlentwicklungen der letzten Zeit um Sogyal Rinpoche und Dorin Renpo nicht überdeutlich, dass diese "Lehrer" sich die authentischen Basistexte nicht richtig erarbeitet und nicht richtig verstanden haben? Und genau dort möchten wir ansetzen: Hören-Sagen, Da-gibt-es-Was und "bizarrer Selbst-Buddhismus des Missbrauchs" reichen nun wirklich nicht mehr aus. Wir müssen an die sicheren Quellen herankommen und hier genau kommt dieser zentrale Teil des Mittleren Weges zum Zuge.

Dieses Kapitel des MMK ist sehr umfangreich und detailliert. Es ist daher sicher für die Philosophie und Praxis Nagarjunas von fundamentaler Bedeutung. Wie analysiert er die wichtigen Probleme von Entstehen, Andauern und Vergehen für alle relevanten menschlichen Prozesse und deren Abgrenzung zu Statik, Stillstand und Erstarrung? Und was verbindet diese drei Merkmale bei einem beobachtbaren und phänomenologisch erfassbaren Prozess.? Wie können Fehlentwicklungen durch verzerrte und fundamentalistische Doktrinen erkannt, vermieden und korrigiert werden?

Recht umfangreich ist dazu auch das zweite Kapitel des MMK über den Prozess des Gehens und der Bewegung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Denn ein Geher auf dem buddhistischen Weg, der sich einbildet zu gehen, aber in Wirklichkeit steht oder liegt, ist kein Geher. Kennen Sie so jemanden?

Auch in diesem Kapitel geht es um die Veränderungen: Entstehen, Andauern und Vergehen bei prozesshaften Entwicklungen. Damit zielt Nagarjuna auf die zentralen Lehren Buddhas: die Vier Edlen Wahrheiten des Leidens und dessen Entstehen und Aufhebung sowie den Achtfacher Pfad in der Praxis unseres Lebens.

In Buddhas sutta „Grundlagen der Achtsamkeit“ heißt es zur Achtsamkeit wiederholt, dass wir das Entstehen, Andauern und Vergehen von Gedanken und Gefühlen genau beobachten und analysieren sollen[1]. Dort wird zum Bereich des Erwachens gesagt:

„Da erkennt ein Mönch, wenn in ihm das Glied des Erwachens der Achtsamkeit, da ist. In mir ist das Glied des Erwachens der Achtsamkeit da.“

Zur Umkehrung wird gesagt, wann die Achtsamkeit nicht da ist. Wie entsteht nun die Achtsamkeit des Erwachens? Wir erkennen, dass das noch
unentstandene Glied des Erwachens, der Achtsamkeit, entsteht.“
Schließlich heißt es, dass diese Achtsamkeit als Teil des Erwachens
„sich völlig entfaltet, auch das erkennt er“.

Zur Freude als Teil des Erwachens heißt es:
„Da erkennt ein Mönch, wenn in ihm das Glied des Erwachens der Freude da ist“ Und weiter wie wir erkennen, dass das noch “unentstandene Glied des Erwachens Freude entsteht und sich völlig entfaltet, auch das erkennt er“.

Über den Prozess der Selbsterkenntnis, der am Anfang des Weges steht, auf dem man die Hemmnisse des Erwachens überwindet, wiederholt Buddha:

„Geistige Gegebenheiten sind da, so ist seine Achtsamkeit gegenwärtig, soweit sie eben dem Wissen dient, soweit es der Achtsamkeit dient. Unabhängig lebt er, und er haftet an nichts in der Welt.“

Buddha beschreibt auf diese Weise u. a. die sieben Glieder der Erleuchtung und die fünf Hemmnisse auf dem Weg des Erwachens. Bei den Hemmnissen geht es natürlich vor allem darum, dass sie klar erkannt werden und wie sie vergehen.

Bei uns entstehen leider immer wieder unreflektiert Affekte, extreme Gefühle, Erregungen und bohrende Gedanken. Wir werden durch sie dann nicht fixiert, wenn sie durch die buddhistische Praxis erkannt werden und wenn sie also vergehen. Hierbei handelt es sich grundsätzlich um ein zeitliches und verbundenes Nacheinander, das vereinfachend in die drei Bereiche Entstehen, Bestehen und Da-Sein sowie Vergehen gegliedert werden kann. Dabei muss nach Nagarjuna beachtet werden, dass es sich in der beobachtbaren Wirklichkeit nicht um getrennte und isolierte Abschnitte oder Entitäten handelt, sondern dass ein kontinuierlicher Zusammenhang besteht.

Da der Buddhismus den prozesshaften Veränderungen als Entstehen und Vergehen beim Menschen zentrale Bedeutung gibt, leuchtet es ein, dass diese Frage sehr genau untersucht werden muss, um Fehlinterpretationen, substanzhafte falsche Doktrinen und falsche Verdinglichungen zu vermeiden.

Die Präambel des MMK spricht vom Prozess des gemeinsamen Entstehens in der Wirklichkeit, dessen Verständnis, wie „wegführende Fehlentwicklungen“ zur Ruhe kommen können.

Es ist in der Geschichte des Buddhismus leider nicht ausgeblieben, dass tief greifende Missverständnisse und Irrlehren entstanden sind, die in diesem Kapitel von Nagarjuna radikal destruiert und richtig gestellt werden: Vor Allem falsifiziert er unveränderliche abgegrenzte Dharmas mit ebenfalls unveränderlichen abgegrenzten Merkmalen des Entstehens, Andauerns und Vergehens. Dabei werden also sogar diese Merkmale als eigenständige isolierte Entitäten verstanden, sie haben Ähnlichkeiten mit isolierten Atome der Welt.

Es leuchtet ein, dass dann menschliche Entwicklungs-Prozesse der Überwindung des Leidens und der Emanzipation zur Erleuchtung nicht sinnvoll erklärt werden können. Und damit sind wir beim Thema dieses Kapitels für Prozesse der Veränderung.

Die Semantik der Dharmas ist für uns westliche Menschen nicht einfach zu verstehen. Eine direkte Übersetzung ist „Dinge und Phänomene“, die Nishijima Roshi gern verwendete. Dabei benennen die Dinge eher einen statischen Aspekt, während Phänomene nicht zuletzt prozesshafte Eigenschaften haben.

Durch die Kombination und Zusammenfügen dieser Dharmas solle die Vielfalt Welt entstehen, dies charakterisiert gleichzeitig die vorbuddhistische Philosophie in Indien. Wie wir heute allerdings wissen, ist diese Annahme physikalisch und chemisch nicht einmal für Atome haltbar, da im subatomaren Bereich weitere Teilungsmöglichkeiten möglich sind. Wie viel weniger ist eine solche Doktrin für lebende Prozesse der Wechselwirkung haltbar.

Bei Buddha geht es hauptsächlich um Veränderungs-Prozesse, so dass das Modell unteilbarer kleiner Einheiten und Atome nicht sinnvoll ist. Denn dann könnten Veränderungen und positive Entwicklungen nicht angemessen erklärt werden.

Für den Menschen, der nach buddhistischer Vorstellung aus fünf Komponenten (skandhas) besteht und keine isolierte Ich-Substanz oder -Essenz im Sinne der alten vorbuddhistischen Lehre des âtman hat, gilt es die Möglichkeiten zu nutzen, um Erstarrungen und Vorurteile zu überwinden, die eine Weiterentwicklung erschweren oder gänzlich unmöglich machen.

Nâgârjuna behandelt in diesem Kapitel m. E. in besonders präziser Weise eine solche unbrauchbare Weltanschauung von unveränderlichen Entitäten für Merkmale, die im Gegensatz zu Prozessen und zeitlichen Verläufen stehen. Dazu gehören die Doktrin der unveränderlichen Substanz der Dharmas der Sarvastivadins und die Doktrin der zeitlich total isolierten Ereignisse der Sautrantika. Diese sollen aus dem Nichts plötzlich entstehen und dann genau so plötzlich wieder verschwinden. Auch eine solche Doktrin von Entstehen und Vergehen ist nach Nagarjuna fundamental falsch.

Ein markantes Beispiel für Entstehen, Andauern und Vergehen ist der menschliche Dialog zu einem bestimmten Thema. Er entsteht durch den Beginn des Gesprächs, dauert eine Zeit lang an und ist dabei mehr oder minder fruchtbar, kreativ und läuft dann aus, zum Beispiel wenn die beiden Menschen auseinander gehen oder ein anderes Thema ansprechen.

Der Prozess des Entstehens, Andauerns und Vergehens kann auch recht genau bei unseren Gefühlen beobachtet werden. Es ist ein Hauptanliegen des Buddhismus, vergiftende Gefühle wie Gier, Neid und Hass entweder gar nicht erst entstehen oder zur Ruhe kommen zu lassen, wenn sie bereits entstanden sind.

Gautama Buddha beschreibt bewährte Möglichkeiten, wie derartige negative Emotionen gar nicht erst entstehen oder so frühzeitig erkannt werden, dass man gegensteuert und sie psychisch unwirksam werden. Er beschreibt auch die positiven Gefühle in analoger Weise und sagt zum Beispiel, dass liebevolle Zuwendung entstehen soll und wir genau beobachten, dass solche Gefühle in uns da sind und sich lebendig entwickeln.

Die moderne Gehirnforschung sagt kurz gefasst: „Das Gehirn ist genau das, was es macht“. Wenn wir also positive Gefühle und Gedanken entstehen lassen und pflegen, wird unser Gehirn in dieser Weise gebahnt und ist für weitere Assoziationen, kreative Gedanken und Gefühle entsprechend vorgebahnt tätig. Gefühle und Gedanken sind dabei miteinander eng gekoppelt und treten gemeinsam auf. Es gibt also eine intensive Wechselwirkung in unserem neuronalen Netz für Gefühle und Gedanken.

Nâgârjuna destruiert in diesem Kapitel eine verfestigte und erstarrte Weltanschauung von isolierten Entitäten oder isolierter „Zeit-Atome“, die zusammenhängende Werdens-Prozesse nicht beschreiben können und damit den Befreiungs-Prozess blockieren. Fließende psychische Entwicklungs-Prozesse dürfen  nicht „zerhackt“ werden, die wie getrennte Entitäten in isolierte Teile des Entstehen, Bestehens und Vergehen verstanden werden.  Schließlich sei noch erwähnt, dass auch materielle Gegenstände bestimmte Veränderungs-Prozesse durchlaufen, obgleich das nicht immer leicht erkennbar ist, da sie z. T. sehr viel mehr Zeit benötigen.

Der Vorgang von Veränderung der Dharmas wird nach den unrichtigen Doktrinen daher in drei statische Merkmale unterteilt. Diese so geglaubten und gedachten Merkmale sind danach abgegrenzte absolute Entitäten. Wie ist dieser Glaube nun mit den Prozessen des Entstehens, Andauerns und Vergehens nach Buddhas authentischer Lehre in Einklang zu bringen?

Es besteht gerade ein unüberwindlicher Widerspruch, der zur Falsifizierung dieser Doktrin der Sarvastivadins führen muss. Es liegt auf der Hand, dass auf jeden Fall große Probleme auftauchen, um die empirischen und phänomenologischen zusammenhängenden Prozesse von Veränderungen damit widerspruchsfrei zu erklären.

Genau diese Fragen mit den in sich widersprechenden Schlussfolgerungen klärt Nagarjuna. Denn nach diesen Doktrinen haben die drei Merkmale der zusammengesetzten Dharmas: Entstehen, Andauern und Vergehen jeweils einen unveränderlichen eigenständigen und unzerstörbaren Kern. Den Anhängern dieser Lehre waren offensichtlich die unlösbaren Widersprüche zur authentischen buddhistischen Lehre wenig bewusst. Ich folge Nagarjuna, dass bei solchen metapysischen ja magischen Annahmen die  Lehre Buddhas für die Befreiung und Emanzipation nicht mehr stimmig ist.

Nagarjunas Auflösung der gravierenden Widersprüche und Halbwahrheiten der beiden genannten Sekten basiert auf Buddhas Verständnis der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechsel-Wirkung (pratitya samutpada). Im dem maßgeblichen Vers dieses Kapitels heißt es:

Was auch immer in Wechsel-Wirkung wird und entsteht, das ist beruhigt und im Gleichgewicht.

Damit ist auch gesagt, dass die beiden obigen Doktrinen kein Gleichgewicht des Menschen bewirken, sondern im Gegenteil zu Unruhe, Zerrissenheit, Leiden, Vereinsamung und Depression führen.

Nagarjuna bekräftigt mit seiner Argumentation die suttas der frühen buddhistischen Lehre, bei denen es um tief greifende nachhaltige positive Veränderungen und Weiterentwicklungen beim Menschen und in der Welt geht: das Entstehen und die Überwindung des Leidens-Prozesses sowie die Befreiung, Emanzipation und schließlich das Erwachen. Buddha begnügt sich bei seiner realistischen Weisheits-Lehre nicht mit der reinen Erkenntnis, sondern lehrt ganz praktisch ganzheitliche und wirkungsvolle Befreiungs- und Emanzipations-Prozesse des Menschen: Die Ablehnung von absoluten Extremen, die ideologiefreie Lehre von Kausalität und Verursachung und nicht zuletzt eine praktikable Ethik, die verlässliche Grundlage des Lebens bietet.

Ergebnis:
Es gibt nicht drei isolierte Teile von Entstehen, Andauern und Vergehen in der wirklichen dynamischen und prozesshaften Welt. Eine solche falsche Doktrin setzt substanzhafte unveränderliche und isolierte Entitäten voraus, wie dies von der "buddhistische" Sekte der Sarvastivadins behauptet wurde. Auch heute gibt es derartige Anschauungen, denn die Sehnsucht nach Ewigkeit und Dauerhaftigkeit verführt dazu, die Wirklichkeit nach unseren Wünschen zu verzerren. Daraus ergibt sich z. B. auch die falsche Aussage, dass für den Buddhismus Nicht-Entstehen wahr sei. Auch heute kann man so etwas manchmal in buddhistischen Kreisen hören, und nicht nur der darauf beruhende extreme Fundamentalismus schafft genau das Gegenteil: Starrheit, Rücksichtslosigkeit und Intoleranz.

Der Prozess des Entstehens, Andauerns und Vergehen kann auch nicht von der entgegen gesetzten Doktrin für getrennte „Zeit-Atome“ oder unverbundene zeitliche Ereignisse sinnvoll verstanden werden. Dies ist die Doktrin der Sautrantikas, die eine Kette von unverbundenen Ereignissen behaupten, die trotzdem irgendwie metaphysisch verbunden sind. In beiden Fällen gibt es gerade nicht etwas Zusammengefügtes der obigen drei Teile. Warum denn auch fließende dynamische Prozesse zerteilen?
Im Gegensatz dazu gibt es im Leben und in der Welt das gemeinsamen Entstehen und Vergehen in Wechselwirkung, das sind vernetzte und zusammenhängende Prozesse von Entstehen, Andauern und Vergehen in handelnder Verantwortung.

Diese Aussage ist von größter Bedeutung für alle Veränderungs- Lern- und Emanzipations-Prozesse und damit für unsere Befreiung aus dem Leiden des Lebens und für unsere prozesshafte Erleuchtung im Alltag.






[1] Vergl.: Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 17 ff., Sutta Grundlagen der Achtsamkeit