Mittwoch, 28. Juni 2017

Zen-Meditation: Verwirklichung des wahren Selbst oder Leugnung der Vernunft?

Zen-Meister Dôgen[i]
(von G. W. Nishijima, Übersetzung Yudo J. Seggelke)



Meister Dôgen wurde im Jahr 1212 buddhistischer Mönch und trat in das Kloster Enryaku-ji in Kyoto ein, wo er etwa drei Jahre lang lebte. Ihm wurde jedoch mit der Zeit klar, dass die buddhistische Lehre in Enryaku-ji damals zu sehr auf intellektuelle Überlegungen konzentriert war, weshalb er zu Meister Eisai ins Kloster Kennin-ji ging.

Meister Dôgen im japanischen Kloster Kennin-ji
Weil dieses Kloster zur Übertragungslinie des Rinzai gehört, können wir annehmen, dass Meister Dôgen von seinem Meister ein Kôan erhielt, dessen Bedeutung er während der Zazen-Praxis immer wieder durchdachte, um auf diese Weise zur Erleuchtung zu gelangen. Dieses Vorgehen unterscheidet sich jedoch von der Praxis des wahren Zazen, die er später sehr genau kennenlernte und herausarbeitete. Meister Dôgen besaß einen scharfen Verstand und ein genaues Beobachtungsvermögen, sodass es bei ihm zu keinen Täuschungen und Illusionen darüber kam, ob er die sogenannte Erleuchtung wirklich erlangt hatte oder nicht. Daher erkannte er zu seinem Bedauern ganz klar, dass er trotz größter Anstrengung nicht so etwas Ähnliches wie die Erleuchtung erfahren hatte. Wir können sicher vermuten, dass ihn diese Erkenntnis stark beunruhigte.

Wahrscheinlich hatte Meister Dôgen daraufhin erhebliche Zweifel, ob die Form des Zazen, die damals in Japan praktiziert wurde, überhaupt geeignet für die Erleuchtung sei. Infolgedessen ist bei ihm wohl der Wunsch aufgetaucht, nach China zu gehen, um dort die wahre buddhistische Übungspraxis des Zazen zu erlernen. Butsuju Myozen, der Nachfolger von Eisai als Meister des Klosters Kennin-ji, hatte offensichtlich genau dieselben Überlegungen wie Meister Dôgen. Butsuju Myozen hegte ebenfalls die große Hoffnung, durch eine Reise nach China das Wahre des chinesischen Buddhismus und vor allem des Zazen direkt zu erfahren. Daher entschieden sich die beiden Meister Myozen und Dôgen, gemeinsam nach China zu reisen, um dort die Erleuchtung zu erlangen, die in Japan offensichtlich nicht möglich war.

Meister Myozen und Meister Dôgen in China
Leider erkrankte Meister Myozen schon nach etwa zwei Jahren des gemeinsamen Aufenthaltes in China schwer und starb im Kloster Tendozan Keitoku-ji am 27. März 1225.

Meister Dôgen setzte seine Reise zu verschiedenen chinesischen buddhistischen Tempeln danach allein fort. Er hoffte, einen wahren buddhistischen Meister zu finden, um das zu erlangen, was er so sehr anstrebte. Am 1. Mai 1225 begegnete Meister Dôgen dann Meister Tendô Nyojô, der inzwischen der Meister des Klosters Tendozan Keitoku-ji geworden war. Er erkannte in ihm schlagartig seinen wahren Meister und studierte und praktizierte Buddhismus unter Tendô Nyojôs Leitung bis zu seiner Rückkehr nach Japan im Jahr 1227.


Die Tatsache, dass Meister Dôgen mit Meister Tendô Nyojô zusammentraf, ist von größtem Wert für den Buddhismus. Bevor Dôgen ihm begegnet war, praktizierte er Zazen mit der Vorstellung, dass man auf ein Ziel gerichtet und mit großer Anstrengung die Erleuchtung erringen müsste. Dies unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von der wahren Praxis des Zazen. Dass Meister Dôgen überhaupt nach China ging, ist seiner großen Aufrichtigkeit und Sorgfalt sich selbst gegenüber zu verdanken, und dass er bis dahin die Erleuchtung tatsächlich nicht erlangen konnte.
Die buddhistischen Lehren Tendô Nyojôs unterschieden sich vollständig von dem, was Dôgen bis dahin kennengelernt, aber auch, was er in China erwartet hatte. Wie er im Kapitel „Die reine buddhistische Praxis bewahren und weitergeben“ im Shôbôgenzô[ii] beschreibt, sagte Meister Tendô Nyojô mit großer Bestimmtheit:

„Zazen zu praktizieren bedeutet nur, Körper und Geist fallen zu lassen. Es ist nicht notwendig, dass wir Räucherwerk anzünden, Buddhas Namen rezitieren, unsere Sünden bekennen oder überhaupt Sûtras lesen. Aber wenn wir nur sitzen, ist alles schon von Anfang an erreicht worden.“

Diese Worte bedeuten, dass die Zazen-Praxis das vegetative Nervensystem ins Gleichgewicht bringt und dass wir das einengende Bewusstsein von Körper und Geist verlieren. Wenn wir nur Zazen praktizieren, verwirklicht sich schon von Anfang an einfach und direkt die Freiheit vom eingeengten Bewusstsein des Körpers und Geistes. Diese Erkenntnis ist einer der wichtigsten Kernpunkte der buddhistischen Lehre überhaupt. Das wahre Zazen dient also niemals nur als Werkzeug und Methode, um das große Ziel der Erleuchtung zu erlangen. Die Zazen-Praxis ist gerade nicht nur ein Instrument oder Hilfsmittel, das sich von dem angestrebten Ergebnis der Praxis, nämlich der Erleuchtung, trennen lässt, sondern Zazen ist die erste Erleuchtung selbst.

Die willensmäßige Konzentration auf das Ziel der Erleuchtung ist also völlig sinnlos und zerstört gerade die wahre Zazen-Praxis. Zazen ist nur das Handeln des Sitzens im gegenwärtigen Augenblick selbst. Wir müssen daher in aller Klarheit sagen, dass beim Zazen das Ziel, die praktische Methode und das eigentliche Handeln beim Sitzen vollkommen zu einer Ganzheit verschmolzen und damit identisch sind. Es ist sehr wichtig, dass wir Zazen einfach und ohne Verspannung als die erste Erleuchtung praktizieren, und wir müssen uns überhaupt nicht darum sorgen, wann die zweite Erleuchtung kommen wird.

Die erste Erleuchtung ist, Zazen im gegenwärtigen Augenblick zu praktizieren, indem wir Körper und Geist fallen lassen. Die zweite Erleuchtung ist das vollständige Verständnis der buddhistischen Lehre auf der Grundlage des ehrlichen täglichen Lebens als Mensch, der den Buddhismus praktiziert. Dabei ist der wichtigste Kern die Zazen-Praxis selbst, wie sie hier beschrieben wird und die wir in dieser Klarheit Meister Dôgen verdanken.

Meister Dôgens Heimkehr
Dôgen kehrte im Jahr 1227, mit 27 Jahren, nach Japan zurück. Nach seiner Rückkehr fragte ihn jemand: „Was hast du aus China mitgebracht?“ Er antwortete darauf: „Nichts“ und fügte dann hinzu: „Wenn ich dazu irgendetwas sagen muss, mag es der bewegliche und sanfte Geist sein (den ich mitgebracht habe).“ Wir können seine Worte heute so verstehen, dass sich unser Körper und Geist, so wie sie sind, beim Zazen im Zustand des Gleichgewichts befinden und es uns so erscheint, als ob wir sie fallen gelassen haben.

Schriftliche Fassung der allgemeinen Richtlinien zum Zazen (Fukan zazengi)
Meister Dôgen hielt sich nach seiner Rückkehr aus China zunächst für eine gewisse Zeit in Kyushu auf und trat dann wieder in das Kloster Kennin-ji in Kyoto ein. Er verspürte ein sehr starkes Bestreben und sah sich auch in der Pflicht, den wahren Buddhismus in Japan zu lehren und zu verbreiten, und zwar genau so, wie er ihn unter Meister Tendô Nyojô in China studiert und erlernt hatte. Er schreibt im ersten Kapitel des Shôbôgenzô:, „Ein Gespräch über das Streben nach der Wahrheit (Bendōwa)“, dass diese Aufgabe wie eine schwere Last auf seinen Schultern lag, die er zu tragen hatte.[iii] Die Schrift „Allgemeine Richtlinien zum Zazen“ (Fukan zazengi) stellt den Beginn der Verbreitung der wahren Lehre des Buddhismus und Zazen in Japan dar.

Es liegen zwei verschiedene Fassungen des Fukan zazengi vor: Eine trägt die Bezeichnung Shinpitsu-Bon und die andere Rufu-Bon. Die erste Bezeichnung besagt, dass diese Ausgabe in einer besonderen chinesischen, kalligrafischen Schrift gesetzt ist, die damals neu war. Die zweite Bezeichnung bedeutet, dass es sich um eine in der Öffentlichkeit weit verbreitete, also populäre Fassung handelt. Shinpitsu-Bon wurde wegen seiner großen Bedeutung zum „Nationalen Schatz Japans“ erklärt, gehört auch zu den wertvollen Schätzen des Tempels Eihei-ji und wird dort bis heute aufbewahrt.
Nachdem ich diese beiden Fassungen immer wieder gelesen und studiert hatte, kam ich zu der Überzeugung, dass Rufu-Bon von Meister Dôgen selbst häufig überarbeitet und verbessert worden war. Daher bin ich der festen Überzeugung, dass Rufu-Bon eine vollkommene und gründlich bearbeitete Fassung darstellt und am besten als Standardausgabe des Fukan zazengi geeignet ist.

Übersetzung von Dôgens authentischem Text des Fukan zazengi
Im Folgenden wird die neue, wörtliche Übersetzung in der Fassung des Rufu-Bon wiedergegeben[iv]:

„Allgemein gesagt ist die Wahrheit, wenn wir sie untersuchen, ursprünglich vorhanden und durchdringt das ganze Universum! Das buddhistische Fahrzeug der Wirklichkeit existiert ganz natürlich. Warum ist es daher für uns notwendig, dass wir manchmal auf der Praxis aufbauen und manchmal vertrauensvoll auf die Erfahrung setzen?
Der ganze Körper existiert jenseits von Staub und Schmutz. Außerdem sind die Methoden, die zum Erreichen der grundlegenden Prinzipien des Buddhismus nützlich sind, überall vorhanden. Warum ist es für uns daher notwendig, von der enormen Anstrengung, sie zu erreichen, erschöpft zu werden.[v]

Darüber hinaus haben wir buddhistischen Mönche schon vollständig den weltlichen Abfall und Staub abgeschüttelt. Warum ist es dann für irgendjemanden überhaupt erforderlich, an die Notwendigkeit der Praxis-Methoden zu glauben, (die dazu dienen sollen, Abfall und Staub) wegzubürsten und abzuwischen?

Grundsätzlich können wir menschlichen Wesen unseren angemessenen Ort im Dharma nicht verlassen. Warum ist es dann für uns notwendig, dass wir einen Teil unserer Beine und Füße nur ein wenig für diesen Zweck benutzen?

Wenn jedoch tatsächlich nur irgendeine kleinste Abweichung (von der Wahrheit) existiert, dann wird diese Lücke der Abweichung (zum Beispiel durch Gedanken) sehr viel breiter und übertrifft sogar den ungeheuren Abstand zwischen Himmel und Erde. Wenn sich daher der kleinste Unterschied irgendeiner Art (zwischen Praxis und Ergebnis beim Zazen) ereignet, müssten wir wegen der Abweichung unsere geistige und körperliche Ausgeglichenheit vollständig verlieren.

Obgleich wir stolz auf unser klares Verständnis und reich mit klugen Entscheidungen ausgestattet sind, obgleich wir noch zusätzliches ausgezeichnetes Denken und die Wahrheit erlangen, obgleich wir den Geist klären, den Willen ertüchtigen und den Himmel großartig durchstoßen und den Kopf in den Bereich des denkenden Handelns bringen, misslingt es uns vollkommen, unseren Körper tatsächlich in den Bereich des wahren Handelns selbst zu bringen.

Darüber hinaus können wir die historisch bleibenden und eindeutigen Tatsachen des Genies Gauthama Buddha ansehen, der am Ort von Jetavana
Anathapindikarama selbst sechs Jahre lang authentisch (im Zazen) saß. Der historische Meister (Bodhidharma) im Shaolin-Tempel, der das zentrale Symbol des Buddhismus nach China brachte und neun Jahre vor der Wand saß, hat auch heute noch seine authentische Ausstrahlung. Andere große alte Meister haben uns weitere hervorragende Beispiele gegeben. Wie kann es angehen, dass wir, die heutigen Menschen, die Zeit verstreichen lassen, ohne überhaupt Zazen zu praktizieren?

Daher sollten wir die Anstrengungen beenden, verbale Begriffe zu suchen und intellektuell zu verstehen. Es ist für uns notwendig, dass wir lernen, innezuhalten und uns zurückzunehmen, das Licht nach innen zu richten und uns selbst gründlich zu analysieren und zu hinterfragen. (Dann wird das fixierte Bewusstsein von) Körper und Geist auf natürliche Weise in wenigen Minuten verschwinden, und unser ursprüngliches Gesicht und unsere ursprünglichen Augen werden sich sofort natürlich manifestieren. Wenn wir etwas Unfassbares (die große Wahrheit jenseits des Denkens) sofort erlangen wollen, sollten wir sofort etwas Unfassbares praktizieren, das ist Zazen!

Allgemein gesagt ist es vorzuziehen, einen ruhigen Raum zu benutzen, wenn wir Zazen authentisch praktizieren wollen. Wir sollten nur in Maßen essen und trinken. Die vielfältigen Umstände (unseres Lebens) sollten wir wegwerfen und alle Arten von Aufgaben vollständig beenden. Denkt nicht an Gut oder Schlecht! Sorgt euch nicht über Richtig und Falsch! Stoppt die Bewegungen des Geistes, des Willens und des Bewusstseins! Stoppt Überlegungen, Gedanken und Reflexionen! Erstrebt niemals, niemals das Ziel, ein Buddha zu werden! Ein solcher Zustand der Anstrengung (des Zazen) kann niemals auf das gewöhnliche Sitzen oder Stehen beschränkt werden.

Auf dem Boden, wo wir im Zazen sitzen, breiten wir normalerweise eine dicke Matte aus und legen ein dickes rundes Kissen zum Sitzen darauf. Entweder praktizieren wir die Haltung des vollen Lotossitzes oder des halben Lotossitzes. Beim vollen Lotossitz legen wir zuerst den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel, und dann legen wir den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel – oder umgekehrt. Beim halben Lotossitz drücken wir mit dem linken Fuß auf den rechten Oberschenkel – oder umgekehrt. Wir sollten unsere Kleidung über den Beinen und Füßen ausbreiten und darauf achten, dass sie geordnet ist. Dann legen wir beim ganzen Lotossitz die rechte Hand auf den linken Fuß und die linke Hand in die rechte Hand, sodass sich die Spitzen der Daumen gegenseitig berühren. Entsprechendes gilt für den halben Lotossitz.


Dann nehmt die authentische Sitzhaltung mit gestreckter, aufrechter Wirbelsäule ein und bleibt in dieser Haltung. Neigt die Wirbelsäule nicht nach links oder nach rechts. Sitzt nicht gekrümmt nach vorn und lehnt euch nicht nach hinten. Die Linien der Ohren und der Schultern müssen in der Waagerechten parallel zueinander verlaufen. Die Nase und der Bauchnabel sollten in einer senkrechten Linie gehalten werden. Legt die Zunge an den oberen Gaumen und haltet die Lippen und Zähne geschlossen. Die Augen sollten natürlich offen gehalten werden.

Atmet sanft durch die Nase. Nachdem ihr die Sitzhaltung bereits (noch einmal) reguliert habt, atmet einmal tief ein und lasst den Oberkörper nach rechts und links pendeln. Dann sitzt ohne Bewegung im Berg-stillen Zustand und denkt den konkreten Zustand des Nicht-Denkens. Wie ist es für uns möglich, den konkreten Zustand des Nicht-Denkens zu denken? Er unterscheidet sich fundamental vom (üblichen) Denken. Dies ist kurz gefasst genau die Technik des Zazen.

Was Zazen genannt wird, ist ganz verschieden vom Zazen der Konzentration und des (angestengten) Lernens, denn es ist genau das Tor des Friedens und der (natürlichen) Freude zum Universum und zur Dharma- Wahrheit. Es ist die (Einheit von) Praxis-und-Erfahrung, um die Wahrheit zu klären. Das System des Universums ist dann bereits verwirklicht, denn die Netze und Käfige (der Verstrickung) sind bei uns überhaupt noch niemals angekommen.

Wenn wir den Zustand erreicht haben, der beim Zazen angestrebt wird, sind wir vermutlich in derselben Lage wie ein Drache, der das Wasser bekommen hat, oder ein Tiger, der einen Berg als Schutz von hinten hat. Wir sollten genau erkennen, dass die Dharma-Wahrheit sich sofort natürlich manifestiert und sowohl die Dunkelheit als auch die Ungenauigkeit vorher zerstört worden sind.

Wenn wir uns vom Sitzen erheben, bewegen wir zuerst allmählich und langsam den Körper, und dann stehen wir stabil auf. Wir sollten niemals hastig oder gewaltsam sein.
Indem wir die alten Zeiten (des Buddhismus) bedenken (wird uns klar), dass alles auf der Kraft beruht, die durch die Praxis geübt worden ist: das Überschreiten des gewöhnlichen Menschverstandes und das Übersteigen des Heiligen. (Wie berichtet wird, kommt aus dieser Kraft) das friedliche Sterben während des Sitzens, oder dass ein alter Meister sanft im Stehen aus dem Leben scheidet.

Außerdem liegt der wesentliche Kernpunkt, um den sich alles dreht, weit jenseits von Entscheidungen durch gedankliches Überlegen oder irgendwelche Bewertungen. Er ist die klar erkannte Erfahrung des Fingerzeigs von Meister Gutei, des Niederholens des Flaggenmastes durch Meister Ananda, der Benutzung einer Nadel durch Meister Nâgârjuna, um (seinen Schüler) Kanadewa zu lehren, des Schlagens eines Blockes, der von Meister Manjusri benutzt wurde, oder der bekannten Verwendung eines Wedels, einer Faust, eines Stabes oder eines Schreis.

Wie wäre es für irgendeine mystische Fähigkeit, Praxis oder Erfahrung möglich, die Fähigkeit zu haben, (dies) mit dem Verstand zu erkennen? (Was darüber hinausgeht) mag die wahre reine Form jenseits von Stimmen und Farben sein. Nur so ist es (für die alten Meister) möglich, der Maßstab für das Denken und die Wahrnehmung zu sein.
Wir sollten daher niemals nach Fähigkeiten auswählen (und urteilen), wer klüger oder dümmer ist. Wir sollten niemals einen klugen Menschen einem einfältigen Menschen gegenüber vorziehen und über höhere Weisheit oder niedrigere Dummheit diskutieren.

Wenn wir ehrlich die Probleme bedenken, muss es nur das Streben nach der Wahrheit sein. Praxis-und-Erfahrung sollen sich niemals gegenseitig beschmutzen, und das angestrebte Handeln sollte im Gleichgewicht und dauerhaft sein.
Ganz grundsätzlich bewahren diese (japanische) Welt und ein anderes Land genauso wie das westliche Land Indien und das östlich Land China die charakteristischen Merkmale des Buddhismus und umfassen nur das authentische Verhalten.

Wir praktizieren allein sorgfältig und genau Zazen und sind ganz auf diesen bewegungslosen Zustand fokussiert. Obgleich unsere Lebenssituationen so unterschiedlich sind und so viele Unterschiede aufweisen, praktizieren wir allein sorgfältig und genau Zazen, um nach der Wahrheit zu streben. Wie wäre es möglich, dass wir unseren eigenen Zazen-Sitzplatz wegwerfen, um hier und dort in fremden staubigen Ländern herumzuwandern, ohne jede Orientierung? Auch wenn wir nur einen einzigen Fehler bei unserem Schritt machen, müssen wir unseren Fehler genau im gegenwärtigen Augenblick zugeben.

Wir haben zu unserem großen Glück schon einen hervorragenden, wertvollen menschlichen Körper. Wir sollten niemals die wertvolle Zeit verstreichen lassen, ohne etwas Nützliches zu tun.

Wir menschlichen Wesen haben schon die außerordentlich wichtige Fähigkeit für die buddhistische Moral. Wie wäre es daher für irgendjemanden möglich, die überaus wertvolle Zeit sinnlos zu verschwenden und für eine seichte, flüchtige Freude zu opfern? Außerdem ist die körperliche Substanz so vergänglich wie ein Tautropfen auf dem Blatt des Grases. Das fragile Leben ist dem Aufleuchten eines Lichtstrahls sehr ähnlich. Beide verschwinden ganz plötzlich und vollständig; sie verlöschen selbst sehr schnell.

Ich möchte daher die edlen Menschen (und Freunde) bitten, den Buddhismus in der Praxis zu erlernen und sich nicht davor zu fürchten, dem Wirklichen Drachen tatsächlich zu begegnen, obgleich sie sich an die Nachahmungen vom Drachen gewöhnt haben. Praktiziert sorgfältig Zazen und vertraut der einfachen, direkten Anstrengung beim Streben nach der Wahrheit. Verehrt den Menschen, der das rein theoretische Lernen überschritten und vordergründige Absichten vergessen hat.

Wir werden vollkommen eins geworden sein mit der Höchsten Wahrheit vieler Buddhas, und wir empfangen authentisch den Zustand des Gleichgewichts (für das vegetative Nervensystem) des Samâdhi vieler großer Meister. Wenn ihr beständig dieses Etwas des Unfassbaren praktiziert, wird sich das Schatzhaus der Juwelen auf natürliche Weise öffnen, und es wird für euch leicht möglich sein, sie zu empfangen und zu verwenden – genau so, wie ihr es wollt.“




[i] Dieses Kapitel ist auch in dem Buch „Aus meinem Leben“ von G. W. Nishijima abgedruckt.
[ii] Kap. 30, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 29 ff.: „Die reine buddhistische Praxis bewahren und weitergeben (Gyoji)
[iii] Vgl. in diesem Buch: Teil II/Kap. 1. „Die Zazen-Praxis und das Streben nach der Wahrheit“ und Kap. 1, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 26 ff.: „Ein Gespräch über das Streben nach der Wahrheit (Bendōwa)“
[iv] Der folgende Text wurde von mir auf der Grundlage der im Internet-Blog von Nishijima Roshi veröffentlichten englischen Fassung übersetzt.
[v] Dôgen erinnert hier an die berühmte Begebenheit der Dharma-Übertragung auf Daikan Enô und den fundamentalen Optimismus Gautama Buddhas, dass wir von Natur aus ohne Verunreinigung sind. Warum sei es dann überhaupt erforderlich, dass wir ausdauernd Zazen praktizieren und die buddhistische Ethik im Alltag handelnd verwirklichen? Dôgen gibt im Folgenden dazu sehr prägnante Begründungen.

Montag, 12. Juni 2017

Mitte und Gleichgewicht im ZEN-Buddhismus: Berühmte Texte

(Aus meinem neuen Buch "Sternstunden des Buddhismus")

In dem großem Werk des ZEN-Buddhismus, Shôbôgenzô, von Meister Dôgen gibt es zwei Kapitel, die zentrale Fragen und Probleme wie in der Präambel des MMK behandeln. Im vorletzten Kapitel hat seines Werkes hat Dôgen, schon von schwerer Krankheit gezeichnet, den Willen zur Wahrheit in den Mittelpunkt gestellt und damit eine dogmatische Verengung auf die angeblich unumstößlich tradierte buddhistische Lehre destruiert. Im Zen wird Wahrheit immer pragmatisch und nicht absolut, dogmatisch und metaphysisch verstanden. Jeder Mensch, der den buddhistischen Weg geht, wird nach eigenem Erleben und eigenen Erfahrungen vorankommen, die Lehre und ein Lehrer oder Meister können nur die Richtung und fundierte Hilfestellungen geben, Hinweise übermitteln und hoffen, dass der Funke der Suche nach der Wahrheit überspringt und eigene Kräfte und Energien beim Schüler entwickeln.

Der Wille zur Wahrheit wird sich dabei auf dem Buddha – Weg immer mehr verfeinern, es wird Sackgassen und Fehlentwicklungen geben, aber wenn dieser Wille stark und ausdauernd ist, wird es weitergehen und nicht stehen bleiben. Der Wille der Wahrheit ist der Kompass auf dem Weg, der uns auch bei Sackgassen und Fehlentwicklungen wieder in die richtige Richtung zurückführt. Aber Dogen sagt nicht, dass diese Wahrheit ein abgegrenztes intellektuelles Wissen ist, das sich nicht mehr weiterentwickelt und quasi dinghaft und endgültig ist. Aber das ist genau der sichere Weg zur Mitte, zum Frieden, zur Befreiung und Emanzipation!

Die große Bedeutung des Willens zur Wahrheit (Dôshin)
Dieses Kapitel über den Willen zur Wahrheit und zum Buddha-Weg ist das 93. des Shōbōgenzō – es steht also beinahe am Ende des Werkes.[i]. Nach meiner Einschätzung hat Dōgen es in späteren Jahren verfasst, sodass seine lange Erfahrung als Meister und Lehrer eingeflossen ist
Die beiden ersten Glieder des Achtfachen Pfades, der bereits ausführlicher besprochen wurde, sind die rechte Sichtweise und der rechte Entschluss. Dōgens Kapitel über den Willen zur Wahrheit hat also eine direkte Verbindung zum Achtfachen Pfad. Allerdings dürfen wir uns die acht Glieder nicht als ein zeitliches Nacheinander vorstellen. Sie wirken auf dem Buddha-Weg gleichzeitig und müssen miteinander verbunden in unserem Leben verwirklicht werden.

In diesem Kapitel fasst Dōgen seine Lehre vom Streben und Willen zur Wahrheit zusammen. Mit einfachen Worten erklärt er die wichtigen Eckpunkte des buddhistischen Weges, der mit dem festen Willen zur Wahrheit beginnt und mit dem Bekenntnis zu den drei Juwelen Buddha, Dharma und Sangha verbunden ist. Die Zazen-Praxis spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle.

Unsere Entscheidung, die wirkliche Wahrheit zu suchen, ist von größter Wichtigkeit

Nach Dôgen ist es für unseren schwierigen Lebensweg von entscheidender Bedeutung, dass wir den Willen zur Wahrheit erwecken und ihn wie einen Kompass in uns tragen. Dann können wir auch in verwirrenden Situationen, und wenn wir in schwierige Sackgassen geraten sind, wieder die richtige Richtung finden, um zu einem Leben in Freude, Frieden, im Gleichgewicht und lebendiger Kreativität zu kommen. Er selbst hatte zum Beispiel auf seiner langen Suche nach der wahren buddhistischen Lehre und Praxis in Japan und auch in China viele Schwierigkeiten zu überwinden, bis er endlich seinen wahren Lehrer gefunden hatte. Dann entdeckte und verwirklichte er die wahre buddhistische Lehre und fand durch die Zazen-Praxis in Wechsel-Wirkung mit der Lehre den befreienden Ausweg aus dem Lebenslabyrinth. Dôgen macht dabei unmissverständlich deutlich, dass nur in der unauflösbaren Verbindung von Theorie und Praxis nach dem authentischen Buddha-Dharma gesucht werden kann.

Viele Buddhisten hoffen vergeblich, dass sie allein mit einer idealistischen oder esoterisch buddhistischen Lehre zum höchsten Zustand des Erwachens und der Erleuchtung gelangen können. Dies ist aber nach Nishijima Roshi, der sich auf Dôgen stützt, ein schwerwiegender Irrtum und ich folge ihm dabei. Es ist unbedingt erforderlich, auch die Lebensphilosophie der Formen und Dinge, also die Vielfalt dieser materiellen Welt, im Einzelnen und differenziert kennen zu lernen und zu erfahren. Außerdem muss dies mit einem anderen Schritt und der nächsten Phase des Lebens, nämlich dem Tun und Handeln im Hier und Jetzt, verschmolzen werden. Wer diese Entwicklungsphasen der äußeren Formen und des Handelns überspringen will, kann niemals in den Zustand der Befreiung gelangen.
Nach der Lehre des frühen Buddhismus müssen alle fünf Komponenten (skandhas) des Menschen zusammenwirken. Dies mag für viele idealistische Buddhisten überraschend und enttäuschend sein, wenn man die große Bedeutung des täglichen Handelns im Zen-Buddhismus, zum Beispiel im Tempel und auf den Feldern, bedenkt, ist diese Aussage wirklich einleuchtend.

Die Zazen-Praxis des einfachen Sitzens, ohne sich dabei auf ein Meditationsobjekt zu konzentrieren, ist nach Nishijima Roshi das Tun und Handeln in reiner Form im Hier und Jetzt. Es ist die Verbindung von Tun und Handeln in der Klarheit des Augenblick. Er betont, dass es ohne Zazen überhaupt keinen wahren Buddhismus gibt. Dann ist Psyche-und-Geist frei von erlerntem Wissen, Vorstellungen und Ideologien; erstarrte Begriffe sind verschwunden und alle Extreme verlieren ihre Bedeutung: Mittlerer Weg, Augenblick und lebendiges Handeln sind nicht getrennt.
Dōgen beschreibt Zazen als einen Zustand von hoher Qualität, den er auch als hohes Niveau des Lebens bezeichnet.

Das hohe Niveau des Zustandes der wirklichen (und wahren) Erfahrung erlaubt keinen müßigen Augenblick, wenn er (tatsächlich) aktiv ist.“

Dieser Zustand ermöglicht die aktive und ungetrübte Entfaltung jedes einzelnen Augenblicks und führt dazu, dass kein einziger Augenblick sinnlos verschwendet wird. Häufig treiben die Menschen jedoch ihre Aktivitäten aufgrund falscher und vordergründiger Absichten, von verfestigten Doktrinen gesteuert und gegen die tiefere Vernunft voran. Dann gehen die Augenblicke der Wirklichkeit verloren. Die Folgen sind entweder träge Unbeweglichkeit oder hektische Betriebsamkeit – beim Handeln können dann im Gegensatz zur Zazen-Praxis die notwendige Ruhe und das innere Gleichgewicht nicht wirksam werden.

„Zazen eröffnet auf diese Weise eine wunderbare und mystische Zusammenarbeit mit allen Dharmas (der Welt) und durchdringt vollständig alle Zeiten, auch wenn es nur ein Mensch ist, der einen Augenblick lang sitzt.“

Dōgen unterstreicht hier wieder die Überwindung des Dualismus, wodurch die „wunderbare und mystische Zusammenarbeit“ mit allen Dingen und Phänomenen (Dharmas) der Welt verwirklicht wird. Der Begriff „Zusammenarbeit“ bedeutet, dass es sich nicht um passives oder gar träges Herumsitzen und um Zeitvertreib beim Zazen handelt, sondern um befreites und befreiendes Tun und Handeln. Dieses ist nach Dōgen nicht mit dem denkenden Verstand zu erfassen, sondern wird als mystisch und geheimnisvoll bezeichnet und überschreitet das dualistische und unterscheidende Denken.

 Die übliche Zeiteinteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird im Augenblick der Zazen-Praxis ebenfalls überschritten[ii]. Das Erstaunliche bei diesem Zitat ist die Aussage, dass bereits die richtige Zazen-Praxis eines einzigen Menschen all dies bewirkt.

„(Die Zazen-Praxis) vollzieht damit die ewige Arbeit der Buddhas im grenzenlosen Universum und deren prägenden Einfluss in der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Für alle Menschen ist es vollständig dieselbe Praxis und Erfahrung.“

Die im Zazen verwirklichte Ganzheit des Menschen mit den anderen Menschen und dem Universum steht im obigen Zitat noch einmal im Mittelpunkt. Nishijima Roshi formuliert es so, dass alle Menschen in der ganzen Welt, die im selben Augenblick Zazen praktizieren, diese Einheit mit dem Universum gemeinsam und in der vollständig gleichen Art und Weise erfahren. Da heute eine globale Kommunikation mithilfe der modernen Techniken des Internets, Telefonierens und auch von Flugreisen möglich ist, haben diese Ausführungen Dōgens nun eine völlig neue Aktualität und Bedeutung erhalten. Denn es eröffnen sich tatsächlich neue großartige Möglichkeiten, trennende Grenzen zwischen den Menschen in der Welt zu überwinden. Es ist für mich keine Frage, dass auch die trennenden Grenzen zwischen den Religionen überwunden werden können und müssen.

„Die Praxis ist nicht durch das Sitzen selbst begrenzt, sondern sie schlägt den (großen) Raum an und klingt wie das Anschlagen der Glocke, das sich vor und nach dem Glockenschlag fortsetzt.“

In diesem Gleichnis wird die Wirkung der Zazen-Praxis poetisch auf den Punkt gebracht: Wenn wir morgens und abends Zazen praktizieren, bleibt die Wirkung auch in der Folgezeit erhalten und verleiht uns Klarheit und Handlungsfähigkeit im Alltag. Nishijima Roshi nennt dies die dauernde Kraft des Zazen: „Der Einfluss der Zazen-Praxis ist niemals auf die Zeit begrenzt, in der man tatsächlich Zazen praktiziert.“ Durch die morgendliche Zazen-Praxis ist es zum Beispiel möglich, die beruflichen und familiären Aufgaben besser und zügiger zu bewältigen.

Besonders psychische Probleme wie die Über- oder Unterschätzung der eigenen Möglichkeiten können durch die Zazen-Praxis behoben werden; hektische Betriebsamkeit oder pessimistische Untätigkeit werden wirksam und nachhaltig überwunden. Dies kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Vor allem im Berufsleben treten heute häufig gravierende Versagensängste auf, umgekehrt führt auch eine Selbstüberschätzung zu unvernünftigem und der Situation und Sache nicht angemessenem Handeln, was nicht selten in einem Desaster endet. Beides wird durch den Mittleren Weg und die Zazen-Praxis in ein kraftvolles und tatkräftiges Gleichgewicht gebracht.

Zum Schluss der Ausführungen zu diesem Thema betont Dogen noch, dass selbst zahllose Buddhas mit all ihrer Kraft und großen Buddha-Weisheit nicht ermessen könnten, was das Gute und die Tugend der Zazen-Praxis eines einzigen Menschen ist. Wesentlich ist dabei das Wort „ermessen“, das auf die materielle Dimension der Zahlen, Berechnungen und Kalkulationen der Menschheit hinweist. Die wahre Praxis kann laut Dōgen dadurch nicht erfasst und nicht im Entferntesten ausgelotet werden.
Dôgen erklärt die wichtigen Eckpunkte des buddhistischen Weges, der mit dem festen Willen zur Wahrheit beginnt und mit dem Bekenntnis zu den drei Juwelen Buddha, Dharma und Sangha verbunden ist. Die Meditation der Zazen-Praxis habe dabei eine ganz wesentliche Bedeutung. Er lehrt hier mit einfachen Worten die entscheidenden Bereiche des Buddha-Dharma, also des buddhistischen Lebens in Theorie und Praxis:

„Bei dem Streben nach Buddhas Wahrheit sollten wir den Willen zur Wahrheit als das Wichtigste ansehen. Menschen, die wissen, was es mit dem Willen zur Wahrheit auf sich hat, sind (aber leider) selten. Wir sollten diese (Wahrheit nur) unter solchen Menschen erkunden, die sie klar erkennen.“

Das heißt, dass die Entscheidung, die Wahrheit wirklich und nachhaltig zu suchen, ist in unserem eigenen Leben von größter Wichtigkeit ist. Für mich ist nicht zu übersehen, dass auch Nagarjuna mit der Präambel eine solche Suche verfolgt, indem er bekannte Begriffe in Frage stellt und destruiert, um nicht in alten scheinbar gesicherten Bahnen zu gehen. Sicher haben auch heute viele jüngere Menschen die feste Absicht, herauszufinden, was wahr und was falsch ist. Sie suchen diese Wahrheit in der Familie, in der Gesellschaft, auf der ganzen Welt und nicht zuletzt in einer buddhistischen Gruppe und Übertragungslinie.

Manchmal erlahmt aber dieser eigene Antrieb im Laufe des Lebens jedoch, weil es in der Tat sehr schwer ist, bei dieser Suche auf die richtige Spur zu kommen, die wirklich weiterführt und diesen Weg trotz Hindernissen und Fehlentwicklungen weiterzugehen. Mit dem Beginn des Lebens als Erwachsener tauchen bei buddhistischen Laien meist viele praktische Probleme auf, die bewältigt werden müssen. Das Streben nach Erfolg und dem sogenannten Aufstieg im Beruf, der mit finanziellen und materiellen Vorteilen verbunden ist, beginnt eventuell, die grundsätzlichen, tiefergehenden Fragen des Lebens in den Hintergrund zu drängen. Das Lebensglück wird dann meist nur noch mit dem Erwerb materieller Objekte oder gesellschaftlicher Anerkennung verbunden. Wenn man sich im übrigen dabei finanziell übernimmt, wachsen die Probleme und Engpässe umso mehr. Bei Mönchen und Nonnen sind, kommt es darauf an, dogmatische zu wenig untersuchte Festlegungen zu vermeiden und sich mit oberflächlichen Erklärungen zufrieden zu geben.

Dôgen rät uns, einen wirklich überzeugenden Menschen und Lehrer zu finden, der die Wahrheit des Lebens klar erkannt und sein Leben deutlich danach eingerichtet hat. Dies bedeutet für uns heutige Buddhisten keineswegs, dass wir uns in eines der wenigen Klöster zurückziehen und damit eventuell in eine scheinbar heile Welt flüchten. Nishijima Roshi lehrt, dass wir den modernen Buddhismus im Alltag, im Hier und Jetzt und in der sozialen Verantwortung der Gegenwart entwickeln und pflegen sollten. Dabei hat die tägliche Übungs-Praxis einen zentralen Stellenwert. Im Gegensatz zu den schwierigen Lebensbedingungen der Laien im alten Japan und Indien bleibt heute genügend Zeit, um zu meditieren, den Buddhismus gründlich zu studieren und so die große Wahrheit zu suchen. Dôgen führt hierzu Beispiele einiger verantwortungsvoller Minister im alten China an, die trotz ihrer hohen Arbeitsbelastung Zazen praktizierten und den höchsten Zustand des Erwachens erlangten. Man denke auch daran, dass in Deutschland pro Tag mehr als vier Stunden der Fernseher eingeschaltet ist. Am Zeitmangel kann es nicht daher liegen.

Dogen warnt vor denjenigen Menschen als Lehrer, die zwar behaupten, dass sie den Willen zur Wahrheit besitzen, aber in Wirklichkeit andere Interessen haben. Man erkenne aber nicht immer sofort, ob jemand wirklich den Weg der Wahrheit suche oder es nur vorgeben. Weiterhin sollten wir uns nicht zu sehr auf unsere eigenen subjektiven Vorstellungen und Erwartungen verlassen, sondern uns dem Gesetz des Universums und der Welt öffnen, das der Buddhismus in Theorie und Praxis lehrt. Dabei könne es uns helfen, die Unsicherheit in der Welt und in unserem eigenen Leben ohne Selbstlüge vor Augen zu führen, um wirklich tiefer zu gehen und weiterzuforschen. Viele der von Interessen gesteuerten Scheinwahrheiten und die „Lehren“ der selbsternannten Meister, die in Wirklichkeit auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, lauern als Gefahren auf unserem Weg und müssen erkannt und bewältigt werden. Wir sollten auch mit den tradierten angeblich ewigen Wahrheiten bestimmter Übertragungslinien mit gebührender Vorsicht umgehen. Genau diese Ziele verfolgt Nagarjuna mit dem MMK.

Umgekehrt seien oft die Menschen nicht ohne Weiteres erkennbar, die den Willen zur Wahrheit wirklich besitzen und daran arbeiten, sodass es nicht einfach sei, einen wahren Lehrer zu finden. Der Wille zur Wahrheit steht am Anfang des buddhistischen Weges und ist der entscheidende Schritt zur Überwindung des Leidens beim Achtfachen Pfad. Dôgen hält diesen Willen für unabdingbar, um mit der Praxis und dem Studium der Lehre überhaupt zu beginnen, und betont:

„Wir müssen nicht unseren eigenen Geist als das Wichtigste ansehen. Wir sollten das große Gesetz, das der Buddha gelehrt hat, als das Wichtigste sehen. Nacht und Tag sollten wir andauernd (und unbeirrt) unseren Geist dabei ganz ergreifen lassen, wie der Wille zur Wahrheit sein sollte.“

Der Geist ist hier nicht isoliert zu versehen, denn es kommt auf das Tun und Handeln selbst an und nicht auf eine Selbst-Betrachtung, wie wir die Suche nach der Wahrheit gestalten.
Der Schwerpunkt sollte nicht auf uns selbst, sondern auf den Buddha-Dharma gelegt werden, Selbstbespiegelung ist die falsche Achtsamkeit. Daher ist auch eine übergroße Sorge für den eigenen Körper und das eigene Leben eher hinderlich.
Er sagt, dass diese Wirkung wie folgt genannt wird: „Den Dharma bis zum Grund zu verwirklichen“ und „Die Wahrheit Buddhas ist im Körper gegenwärtig“.

Am Ende bekräftigt er:
„Zazen ist nicht eine Methode der dreifachen Welt (der gewöhnlichen Menschen), es ist die (wahre) Methode der buddhistischen Vorfahren im Dharma.“

Die gewöhnlichen drei Welten sind durch die Gier, die Fixierung auf die Materie und die Idee der Nicht-Materie gekennzeichnet.


Die acht Wahrheiten eines wirklich großen Menschen (Hachi-dainingaku)
Nach der Überlieferung lehrte Gautama Buddha kurz vor seinem Tod die acht Wahrheiten eines wirklich großen Menschen, also eines Buddhas oder Bodhisattvas, sie sind eine reale Zusammenfassung der Weisheit des Mittleren Weges. Die acht Wahrheiten sind auch Thema des letzten Kapitels des Shôbôgenzô, das Dôgen lehrte und niederschrieb, als er schon schwerkrank und vom Tode gezeichnet war. Man nimmt heute an, dass Dôgen an Tuberkulose litt, die damals meist unheilbar war. Er kehrte zwar zur besseren ärztlichen Behandlung vom Kloster Eihei-ji nach Kyoto zurück, erholte sich aber nicht mehr und verstarb dort im Alter von 53 Jahren.
Wir sollten diese letzte Lehrrede von Gautama Buddha und von Dôgen mit großer Sorgfalt studieren. Sie fasst die wichtigsten Regeln für ein wahres buddhistisches Leben recht einfach und praxisorientiert zusammen. Diese Regeln sind keine Dogmen, sie sind auch keine Extrem-Forderungen, sondern ähnlich wie die Bodhisattva-Gelöbnisse als Hilfe für unser natürliches tägliche Leben zu verstehen.

Dôgen schreibt am Anfang des Kapitels, dass man den ruhigen und ausgeglichenen Lebenszustand erreicht, wenn man diese acht Wahrheiten verwirklicht. Damit verwendet er den selben Begriff „zur Ruhe kommen“ wie Nagarjuna. Er spricht davon, dass man in das Nirvâna eingeht, und meint damit vor allem den Zustand des Gleichgewichts und der Befreiung im Hier und Jetzt. Im Folgenden werden die acht Wahrheiten dargestellt und kurz erläutert.

1. Geringe Begierde
Diese Regel beinhaltet, dass wir nicht Dingen nachjagen sollen, die wir noch nicht besitzen, aber unbedingt haben wollen. Dazu gehören vor allem die Objekte der Begierden, die durch die Wahrnehmung mit den fünf Sinnesorganen – den Augen, Ohren, der Nase, Zunge und Haut – hervorgerufen und angestachelt werden. Dôgen zitiert Gautama Buddha, der warnte, dass das Leiden grenzenlos ist, wenn wir diesen Begierden hemmungslos, extrem und unkontrolliert nachgeben. Hat man sie jedoch „im Griff“, kann sie steuern und hält sie klein, befreit man sich von ihrer Dominanz und damit auch vom Leiden. Solche Menschen schmeicheln auch nicht um des eigenen Vorteils willen und kriechen nicht vor denjenigen, von denen sie die Objekte der Begierden erhalten möchten. Nur auf diese Weise seien wir ohne Sorgen und Furcht, haben umfassende Freiheit und großen Spielraum im eigenen Leben und sind nicht unzufrieden. Dogen sagt nicht, dass wir alles Wollen und Wünschen asketisch unterdrücken sollen. Das widerspräche dem Mittleren Weg und ist ziemlich sinnlos, wie Buddha selbst erfahren hatte.

2. Erkennen der Zufriedenheit mit dem, was man hat
Hier wird vor allem angesprochen, dass wir mit den Dingen, die wir besitzen, und unseren Lebensumständen zufrieden sind und nicht immer Extremen nachjagen. Wenn wir eine solche Zufriedenheit klar erkennen, dann überwinden wir die verschiedenartigen Leiden in unserem Leben und erleben einen Ort des Reichtums, der Freude und des Friedens. Wenn wir eine solche Zufriedenheit nicht kennen, könnten wir sogar an einem himmlischen Ort leben und wären trotzdem immer unzufrieden, frustriert und wollten immer noch mehr. Neid und Missgunst sind die Fend der Zufriedenheit und schaden uns selbst am meisten Dôgen zitiert dazu Buddha:
„Jene Menschen, die die Zufriedenheit nicht kennen, sind arm, selbst wenn sie reich sind, und jene, die die Zufriedenheit kennen, sind reich, selbst wenn sie arm sind. Jene, die die Zufriedenheit nicht kennen, werden ununterbrochen von den fünf Begierden gesteuert.“

3. Freude an der Stille haben
Wir sollten uns von lärmenden, unruhigen Gruppen und Veranstaltungen fernhalten und einen ruhigen Ort suchen. Das ist in der heutigen hektischen Zeit besonders wichtig. Viele empfinden in einer solchen Abgeschiedenheit große Langeweile, aber der dauernde exaltierter Trubel ist sicher der falsche Weg für ein Leben im Gleichgewicht. Gautama Buddha vergleicht diese Situation mit einem Schwarm von Vögeln, die auf einem Baum sitzen und ständig in großen Sorgen und Ängsten sind, dass dieser zusammenbricht und umfällt, obgleich er leicht die auf ihm sitzenden Vögel tragen kann. Außerdem sagt er:
„(Jene), die an die Welt gefesselt sind und ihr anhaften, versinken in verschiedenartiges Leiden, wie ein alter Elefant, der im Sumpf versinkt und selbst nicht in der Lage ist, wieder herauszukommen. Dies wird genannt‚ sich fernzuhalten’.“ Wir müssen dabei sicher den extremen lärmenden Unterhaltungs-Konsum der Massenmedien erwähnen.

4. Fleiß praktizieren
Dabei kommt es darauf an, ausdauernd zu praktizieren und nicht in seinen Bemühungen zu erlahmen. Nach Gautama Buddha wird dann überhaupt nichts schwierig und unüberwindbar sein:
Wir sollten Fleiß und Ausdauer praktizieren wie „ein steter Tropfen Wasser, der andauernd niederfällt und wirklich in der Lage ist, einen Felsen zu durchbohren.“
Das Gegenteil davon sei ein hektischer oder träger Mensch ohne Ausdauer, der Feuer durch schnelles Reiben zweier Hölzer aneinander erzeugen will, aber leider aufhört, kurz bevor die Hölzer heiß genug sind und das Feuer sich tatsächlich entzündet. Extreme und hektisch und ohne Ausdauer verfolgte Ziele führen häufig zu bösen Rückschlägen und unterminieren die Kraft etwas Sinnvollen zu tun.

5. Nicht die (rechte) Achtsamkeit verlieren
Hier geht es vor allem um die wahre Achtsamkeit für andere und nicht um den oft sentimentalen Selbstbezug und das Selbstmitleid, die heute häufig festzustellen sind. Der Begriff der Achtsamkeit ist nach Buddha umfassend zu verstehen. Wenn man dauernd um sich selbst kreist, sich selbst kramphaft beobachtet und interpretiert, entspricht das bestimmt nicht der von Gautama Buddha gelehrten Achtsamkeit. Dôgen setzt dabei vor allem auf gute Lehrer, denen wir uns anvertrauen und unter deren Anleitung wir auf dem Buddhas Mittleren Weg weiterlernen.

Durch eine solche Achtsamkeit können uns „die Banditen der Not“ nicht erobern und wir bleiben im Gleichgewicht. Wir sollten daher unsere Gedanken und Gefühle steuern, vor Extremen bewahren und sie im richtigen Ort des Geistes halten. Wer seine Achtsamkeit verliert, verliert seine Tugend und Lebensfreude. Wir seien durch die Achtsamkeit im Kampf des Lebens wie durch einen Panzer geschützt.

6. Den Zustand des Gleichgewichts der Meditation praktizieren
Dies bedeutet, dass wir ohne Störung im Gleichgewicht der Meditation und im Buddha-Dharma verweilen. Nishijima Roshi sagt, dass es ohne die Meditation z. B. des Zazen keinen Buddhismus gibt. Gautama Buddha erklärt, dass durch die Steuerung des Geistes der Zustand der inneren und äußeren Balance eintritt. Dann zerstreut sich unser Geist nicht, sondern ist gesammelt. Buddha vergleicht ihn mit einem Leitungssystem für Trinkwasser, das kein Leck hat und dicht ist, sodass kein Wasser unnütz versickert und verloren geht.

7. Weisheit praktizieren
Buddha betont: „Wenn ihr Mönche Weisheit habt, dann werdet ihr ohne Gier und Anhaftung sein.“ Es sei wichtig, dass wir uns sorgfältig beobachten und darüber reflektieren, wie wir denken, fühlen und handeln, was sich also in unserem Geist und unserer Psyche ereignet und ob wir durch extreme Gefühle und Gedanken hin und her geworfen werden. Wir sollten möglichst schnell durchschauen, wenn wir von der Gier nach Ruhm und Profit getrieben werden.

Dadurch verweilen wir in der Wahrheit des Dharma und erreichen die Befreiung und Emanzipation. Ist dies nicht der Fall, dann unterscheiden wir uns grundsätzlich von den Menschen der Wahrheit, seien es Nonnen, Mönche oder Laien. Die Weisheit sei wie ein stabiles Schiff, mit dem wir den Ozean des Alterns, der Krankheit und des Todes überqueren wollen und können. Sie sei ein großartiges Licht für die Dunkelheit der Unwissenheit und eine gute Medizin für kranke Menschen. Er fügt hinzu:
„Wenn ein Mensch das Licht der Weisheit besitzt, ist er auch mit den körperlichen Augen jemand mit klarer Sichtweise. Dies wird ‚Weisheit’ genannt.“

8. Sich nicht in müßigen Diskussionen engagieren
Indem wir uns von exaltierten Unterscheidungen und einseitigen Abwertungen anderer fernhalten, verwirklichen wir die reale Form und Wirklichkeit des Lebens. Aufgebrachte affektive Diskussionen in Extremen verwirren dagegen nach Gautama Buddha den Geist. Wir können uns dann nicht von diesen Verwirrungen befreien, selbst wenn wir in ein Kloster eingetreten sind. In der Tat sind derartig hitzige, oft aggressiv geführte Streitgespräche wenig geeignet, um auch nur ein Stück Wahrheit zu finden und zu befördern.

Dann zitiert Dôgen noch einmal Gautama Buddha:
„Ihr Mönche solltet euch dauerhaft anstrengen, mit ungeteiltem Geist die Wahrheit der Befreiung anzustreben. Alle Dharmas dieser Welt, die sich bewegen oder bewegungslos sind, vergehen ohne Ausnahme und haben keine stabile Form. Ihr solltet jetzt für eine Weile innehalten und nicht mehr reden. Die Zeit muss weitergehen und ich schicke mich an, zu sterben. Dies ist meine letzte Unterweisung.“

Dôgen bedauert, dass zu seiner Zeit viele Menschen die acht Wahrheiten des Mittleren Weges nicht kennen und auch nicht erlernen wollen. Wer jedoch Zugang zu ihnen habe, könne sich glücklich schätzen, weil er auf diese Weise gute Wurzeln für sein eigenes Leben besitze. Er bezeichnet seine eigene Zeit als heimtückisch und dekadent und mahnt uns:

Solange der wahre Dharma des Tathâgata die tausendfache (Welt) durchdringt und solange die reine Lehre noch nicht verschwunden ist, sollten wir sie ohne Verzug erlernen. Seid nicht träge oder nachlässig.“






[i] Shōbōgenzō, deutsche Fassung, Bd. 4, S. 281 ff. und englische Fassung, Bd. 4, S. 223 ff.
[ii] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd.1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)

Freitag, 9. Juni 2017

Der Mittlere Weg Nagarjunas: Widerspruch oder Konsens mit moderner Wissenschaft

Die Präambel: Eine Ouvertüre
(Yudo J. Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner)
((Aus meinem neuen Buch "Sternstunden des Buddhismus", bitte Urheberrecht beachten)

Wir möchten Ihnen unsere neue Interpretation des berühmten Mittleren Weges (im Folgenden MMK) vorstellen. Es handelt sich um einen der wichtigsten Basis-Texte des Buddhismus, der allerdings nicht einfach zu verstehen ist und seit vielen Jahrhunderten immer wieder zu Missverständnissen geführt hat. Er ist u. a. der zentrale Grundlagentext für den Begriff und die Bedeutung der Leerheit (Kapitel 24 des MMK, hier nicht behandelt).

Wir sind davon überzeugt, dass diese neuen Erkenntnisse einer wortgetreuen Erst-Übersetzung und der modernen Systemforschung z. B. der Ökologie und Gehirnforschung ein nachhaltig besseres Verständnis als bisher ermöglichen. Etwas zugespitzt kann man sagen, dass Buddha und Nagarjuna ein tiefes intuitives Verständnis derartiger lebender System-Vernetzungen und deren Veränderungen hatten, das bisher zu wenig beachtet wurde. Aber der Buddhismus geht selbstverständlich über eine rein wissenschaftlich Sichtweise hinaus.

In einem folgenden Post werde ich einen wichtige Basis-Text des Zen-Meisters Dôgen  aus seinem großen Werk Shobogenzo vorlegen, der einen erstaunlichen Bezug zur Präambel des Mittleren Weges hat. 

Hinführung
Die Präambel des MMK lenkt unseren Geist und unser Leben auf das große Anliegen Buddhas und Nagarjunas, uns von bisherigen Begrenzungen und Hemmnissen des Leidens zu befreien und uns auf ein erfülltes und kaum erhofftes Neuland des Lebens zu leiten. Ihr Anliegen ist in hohem Maße emanzipatorisch, therapeutisch und kreativ. Dann können wir bisheriges Leiden überwinden und ein neues Leben mit Freude, innerer Ruhe und Gleichgewicht führen. Das bezeichnet Buddha als Erwachen und wir sagen heute meist Erleuchtung.

Als zentrale Verursachung für ein ungutes Leben ist die Fixierung auf erstarrte Ideologien und die Abhängigkeit von Gier, Hass und Unwissenheit zu sehen. Der Kausal-Zusammenhang des Leidens und auch der Freude ist nach seiner Lehre und Erfahrung weitgehend und zunehmend durch unsere eigene Vernunft zu erkennen und durch neue von uns selbst gesteuerte weiterführende Impulse zu verändern. Ein begrenzter Verstand reicht im Gegensatz zur Vernunft nicht aus.[1] Die Klarheit unseres eigenen Geistes in dem wechsel-wirkenden Zusammenhang kann uns dabei den rechten Weg weisen. Das ist ein kraftvoller Weg der Mitte, der ideologische und dogmatische Extreme vermeidet. Dabei müssen die wichtigen Begriffe des Buddhismus einer laufenden durchaus kritischen Analyse unterzogen werden, indem sie auch in Beziehung zu ihrer eigenen Negation gesetzt werden, z. B. Entstehen und Nicht-Entstehen. Mich überzeugt diese Praxis und Philosophie Buddhas und Nagarjunas in besonderem Maße.

Welches ist nun der Weg, den wir zu diesem neuen Leben einschlagen sollten und mit zunehmender Ruhe und mit wachsendem Selbstvertrauen gehen? Nagarjuna will m. E. für den authentischen Buddhismus eine neue belastbare Grundlage und Klarheit zurück gewinnen und gleichzeitig die seit Buddha entstandene positive Entwicklung in Indien integrieren und vital weiterführen. Aber er will auch und gerade die eingetretenen Fehl-Entwicklungen und philosophischen Verwirrungen dingfest machen, einkreisen und einer wirklich radikalen kritischen Analyse unterziehen. Und wir sollten heutiges Wissen der Moderne von Wissenschaft und Philosophie einbringen. Damit gewinnt der Buddhismus neue Klarheit und Dynamik, und das gilt auch und gerade für unsere Gegenwart.

Das gelingt ihm ohne Zweifel dank seines brillianten, geschulten und messerscharfen Verstandes ausgezeichnet wie kaum ein anderer Denker vor und nach ihm. Aber seine Texte sind nicht einfach zu verstehen, sie waren und sind vielfältigen Missverständnissen ausgesetzt. Mit dem MMK wird m. E. das Tor für die große Verbreitung der authentischen buddhistischen Lehre und Praxis über den chinesischen Chan, japanischen Zen und den tibetischen Buddhismus bis hin zur Moderne im Westen geöffnet. Für mich sind die Arbeiten von Nagarjuna nach intensivem Studium von über 17 Jahren des Mittleren Wegs (Madhyamika) und Mahahayana und 47 Jahren des Zen von zentraler Bedeutung. Dieser Weg wäre ohne meinen Lehrer Nishijima Roshi nicht möglich gewesen. Was sind nun die Kern-Aussagen der Präambel, die in den später folgenden Kapiteln des MMK im Einzelnen ausgearbeitet werden?

Im ersten Teil werden acht wichtige buddhistische Begriffe negiert, z. B. „nicht Entstehen“ und „nicht zur Ruhe kommen“. Damit fordert der Autor uns auf, die erstarrten aber eventuell nur oberflächlich oder sogar falsch verstandenen Begriffe radikal in Frage zu stellen, sie waren nicht selten dogmatisch verhärtet und zu Worthülsen oder sogar zum Gegenteil degeneriert. Aber wir sollten uns auch vor der dogmatischen Verhärtung der Negation hüten, sie darf nicht absolut und isoliert verstanden werden. Durch den dialektischen Zusammenhang des positiven und negativen Begriffes wird methodisch jede extreme Einseitigkeit der Bedeutung überwunden und eine inhärente Dynamik des Begriffes selbst in Gang gesetzt.[2]

Leider waren nach Buddha sektiererische Gruppen entstanden, die den authentischen Buddhismus entstellten und sogar vor-buddhistische, magische, dogmatische und absolute Ideologien wieder belebten: Vor allem soll dabei die indische spirituelle Sehnsucht und Philosophie nach Ewigkeit, Einheit, Unvergänglichkeit und Auflösung des Selbst im Einheits-Ozean des Nirvana genannt werden. Das ist recht genau die Religion der Veden mit brahman als das umfassende moralische Ur-Eine und âtman als der daraus entstandene und zugehörige individuelle unveränderliche Wesenskern.

Aber genau diese Philosophie führt nach Buddha zu Missbrauch und Leiden, nicht zuletzt durch die „göttliche“ unauflösbare Koppelung an das unethische indische Kastensystem. Diese ewige Koppelung hatte Buddha ohne Zögern für ungültig und ethisch unvertretbar erklärt und konsequent ausgeschlossen. Der Buddhismus wird von Nagarjuna von solchen Doktrinen entschlackt und zu neuer Kraft und zu neuem Leben erweckt werden. Es geht ihm keineswegs um die totale Ablehnung aller Ansichten, Lehren und Konzepte oder der Wirklichkeit selbst, wie nihilistische Interpreten behauptet haben. Die genannten vor-buddhistischen Lehren werden jedoch klar bezeichnet, die von Buddha als falsch, unzureichend oder sogar gefährlich markiert wurden[3].

Wie lautet die zentrale positive Botschaft des MMK? Die Wirklichkeit der Welt und des Lebens kann durch das „wechsel-wirkende gemeinsame Entstehen, pratitya samutpada“ treffend verstanden und bezeichnet werden. Dabei ist für mich klar, dass die Wirklichkeit niemals wegen ihrer unendlichen Komplexität total verstanden werden kann und es geht darum, sie so gut wie möglich zu verstehen und in die eigene Selbst-Steuerung zu integrieren. Ich halte das Ziel des absoluten Allwissens im Buddhismus für illusorisch und romantisch überzogen. Es ist typisch für die vor-buddhistische Religion. Damit sind die wirklich belastbaren Grundlagen für unseren eigenen Weg der Befreiung, Emanzipation, Weiter-Entwicklung und des Erwachens umrissen.

Dieses Verständnis der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechsel-Wirkung hat eine erstaunlich große Übereinstimmung mit den Ergebnissen der neuesten Gehirnforschung und Öko-Systemforschung. Bisher wurde als Übersetzung überwiegend der verkürzte Begriff „abhängiges Entstehen“ verwendet, den ich jedoch nicht wirklich überzeugend finde. Darauf werde ich noch zurückkommen.

Und weiter: Durch unsere eigene Einwirkung („Wirk-Kraft“) im Geist und im Handeln also durch gewollte und bewusste Veränderungen erreichen wir das „gemeinsame Gelingen in Wechsel-Wirkung“. Das ist ohne Zweifel ein zentraler Schlüssel des Buddhismus, denn damit gelingt ein gutes Leben.

In unserem Leben entstehen vielfache wegführende Fehlentwicklungen, die nach Buddha und Nagarjuna durch die buddhistische Lehre und Praxis zur Ruhe kommen. Sie hemmen und verwirren uns dann auf dem Mittleren Weg nicht mehr, sodass sich unser fast unbegrenztes menschliches Potential entwickelt und genutzt werden kann, ein Potential, das sonst wohl vergeudet würde.

Im Laufe der Argumentation des MMK wird der Begriff der Leerheit als Bezeichnung für die  gemeinsame Wechsel-Wirkung in der Realität ohne schädliche Doktrinen eingeführt. Aber auch der Begriff der Leerheit stiftet oft tiefgreifende Verwirrungen.

Die Leerheit hat etwa folgende Bedeutung: Bezeichnung der Wirklichkeit ohne Mystifizierungen, doktrinäre Verzerrungen, ohne leidenschaftliche Abhängigkeiten und mit unserer eigenen Selbst-Steuerung. Das ist die dynamische „Wirklichkeit wie sie wirklich ist und sich fortlaufend verändert“. Philosophisch gilt: Die Wirklichkeit ohne die Doktrin einer innewohnenden, unsichtbaren und unveränderlichen Substanz (âtman, svabhâva). Die Wirklichkeit ist also leer von einer solchen unsichtbaren ewigen und absoluten Substanz des Selbst.

Die Dynamik der Wirklichkeit ist durch Entstehen, Vergehen, Veränderungen usw. gekennzeichnet. Diese Veränderungen sind Voraussetzungen sowohl für die Überwindung des Leidens als auch die Befreiung, Weiterentwicklung, Emanzipation und Erleuchtung des Menschen. Die Vernetzung und Wechselwirkung der Prozesse und Strukturen der Wirklichkeit sind dabei wichtig. In der Wirklichkeit können wir überhaupt keine Isolation, keine totale Unabhängigkeit und kein Entstehen ohne Wechselwirkung und kein Entstehen nur aus sich selbst heraus erkennen. Dabei ist die Interaktion in der Vernetzung des Ganzen von zentraler Bedeutung.

Bedeutsam ist die konsequente Vermeidung von gedachten oder geglaubten Extremen, das ist der Mittlere Weg. Wir brauchen zudem Klarheit über die Möglichkeiten und Grenzen von Verzerrungen der Sprache und der Vernunft: „Weisheit jenseits der Weisheit“. Dazu gehört auch die Überwindung reiner „gelehrter“ Scholastik und der mathematischen Logik, also des ausschließenden „Entweder-Oder und der totalen Identität“ (wie etwa Aristoteles).
Schließlich ist es ohne die wirkliche Bedeutung der Leerheit nach Nagarjuna m. E. sehr schwer, das MMK und die weitere Entwicklung des Buddhismus zu verstehen.

Übersetzung:
Nicht-zur-Ruhe-Kommen, Nicht-Entstehen.
Nicht-Abschneiden, Nicht-Dauerhaftigkeit.
nicht einen Zweck habend, nicht viele verschiedene Zwecke habend.
Nicht-Ankunft, Nicht-Fortgehen.

Buddha, der vollkommen Erwachte, zeigte das wechsel-wirkende gemeinsame Entstehen in der Welt und den Mittleren Weg zu einem befreiten Leben. Er zeigte das beglückende Aufhören der wegführenden Fehlentwicklungen und Verwirrungen.

Ihn, den besten der Sprechenden und Lehrenden, verehre ich


Erster Teil der Präambel

Nicht-zur-Ruhe-Kommen
Wie zum frühen Buddhismus beschrieben, ist der Kern Buddhas Lehre die Veränderung, Weiterentwicklung, Befreiung des Menschen und vor allem die Überwindung des Leidens. So kommt das Leiden zur Ruhe. Wenn zum Beispiel das auf „Sinnlichkeit gerichtete Wollen“ oder die „Aufgeregtheit und Unruhe“ als Hemmnisse nicht zur Ruhe kommen, kann es den Befreiungsweg des Erwachens für uns nicht geben. Wer nicht darauf vertraut, dass sich diese Hemmnisse kontrollieren und überwinden lassen, sondern daran glaubt, dass sie unveränderliche Phänomene und substanzhafte Entitäten des Menschen sind, dem fehlt der Mut und die Kraft zur eigenen Entwicklung.

Solche Hemmnisse sind vielleicht irgendwann einmal in der frühen Jugend entstanden oder auf äußere Einflüsse zurückzuführen, aber sie sind keine unveränderlichen Merkmale eines angeblich unveränderlichen Kerns der Persönlichkeit. Es ist sicher kein Geheimnis, dass heute viele Menschen resignierend nicht daran glauben, dass es solche Veränderungen zum Positiven geben kann, sodass man zur Ruhe kommen und Gelassenheit in seiner Mitte finden kann. Das eigene Handlungs- und Entwicklungs-Potential bliebe dann ungenutzt und kann sich nicht entwickeln. Besonders fatal ist es, wenn erstarrte konventionelle Weltanschauungen und Doktrinen von den Menschen Besitz ergreifen und sie meinen, dass das Leiden wie Kummer, Jammer, Schmerz, Gram, Verzweiflung usw. grundsätzlich nicht überwunden werden können.
Buddhas Lehre sagt das Gegenteil und nennt Neid, Gier, Hass und Verblendung als Verursachung für einen solchen falschen Glauben der Erstarrung und Dauerhaftigkeit des Leidens. Wenn wir von diesen „Giften“ beherrscht werden, können wir nicht mehr klar denken, sehen, hören, fühlen usw., sodass sogar die sinnliche Wahrnehmung unklar, verzerrt und ideologisch gefesselt ist. Das gilt in noch stärkerem Maße für geistige und psychische Bereiche des Menschen. Buddha sagt in den Vier Edlen Wahrheiten, wie wir uns befeien, zur Ruhe kommen und das Leiden aufheben:

„Eben jenes Durstes restlose von Gier freie Aufhebung, sein Aufgeben, seine Entäußerung, die Befreiung davon, das ohne Grundlage ist.“[4] Der Achtfache Weg wird als praktischer Weg der Befreiung genannt, zum Beispiel rechte Sichtweise, rechter Entschluss usw.

Die Aussage „Nicht zur Ruhe kommen“ scheint gegen den authentischen Buddhismus gerichtet zu sein und im Widerspruch mit ihm zu stehen. Was will Nagarjuna damit ausdrücken? Ich folge dabei Kalupahana[5], der die sektiererische Doktrin einer unsichtbaren, unveränderlichen Substanz in den Phänomenen der Welt benennt, die gerade nicht zur Ruhe kommen kann (Sarvastivadins). Das gilt für etwas, das sich nicht dynamisch verändert.

Nicht-Entstehen:
Wenn man von unveränderlichen Dingen und Phänomenen, dem angeblich ewigen Seienden einer unsichtbaren und inhärenten Substanz in der Welt ausgeht, kann es keine Veränderungen und Bewegungen in unserem Leben geben. Dann kann nichts entstehen und es gibt keinen Entwicklungs-Weg aus dem Leiden der Welt. Bei einer solchen Philosophie und Weltanschauung kann die buddhistische Befreiungslehre gar nicht in der Praxis in Gang kommen, sie bleibt im philosophisch Unverbindlichen und hat keine Wirkung für den Menschen. Bei einer allgemeinen Ideologie des „Nicht-Entstehens“ müssen wir von totaler Isolation des Menschen ausgehen, es gibt dann keine Einwirkung von anderen Menschen, der Umgebung und keine Wechsel-Wirkung.

Aber die buddhistische Lehre kennt auch Lebens-Situationen, in denen bestimmte negative Phänomene gerade nicht entstehen sollen. Zum Beispiel heißt es bei den fünf Hemmnissen zum Übelwollen: Der Mönch erkennt „wie vergangenes Übelwollen künftig nicht mehr entsteht“. Ähnliches gilt für die anderen vier Hemmnisse Aufgeregtheit, Unruhe oder Zweifelsucht. Buddha sagt auch: Wenn Neid, Gier Hass usw. nicht entstehen, so gibt es kein Leiden. Jeder menschliche Entwicklungs-Prozess lässt dagegen neue Kräfte, Freiheiten und kreative Alternativen entstehen. Wer nicht darauf vertraut, kann sich nicht entwickeln und ist eigentlich geistig und psychisch schon halb gestorben.

Gerade die positive Veränderlichkeit ist ein zentrales Merkmal des Menschen, weil er immer etwas Neues verwirklichen kann und sich dadurch Freiräume und Unabhängigkeiten erarbeitet, die anderen Lebewesen, z. B. den Tieren, nur in geringem Umfang oder überhaupt nicht möglich sind. Lernprozesse sind wesentlich Entstehungs- und Erweiterungs-Prozesse und laufen am besten natürlich und mit Freude ab, das wissen wir aus der Gehirnforschung.[6] Es gilt insbesondere für die sieben Glieder des Erwachens: Achtsamkeit, Unterscheidungsvermögen, Energie, Freude, Gestilltheit, Sammlung und Gleichmut. So heißt es bei Buddha von einem solchen Menschen, der diese Glieder des Erwachens entstehen lässt: „Unabhängig lebt er und er haftet an nichts in der Welt[7].

Nicht-Abschneiden:
Alle lebenden Prozesse dieser wirklichen Welt entwickeln sich fort und hören nicht plötzlich auf: Sie verschwinden nicht plötzlich im Nichts. Sie können also zeitlich nicht abrupt beendet werden und es gibt daher kein zeitliches Abschneiden. Auch die in einigen buddhistischen Gruppen gelehrte plötzliche Erleuchtung bedeutet nicht, dass alles Vorherige abgeschnitten ist und etwas total Neues entsteht, sondern dass es sich einerseits um eine kontinuierliche Entwicklung des Menschen handelt, aber dass zusätzlich ein plötzlicher qualitativer Schub der Lebensqualität und Klarheit für die weitere Entwicklung entsteht, der neue Dimensionen eröffnet.

Die buddhistische Lehre des Handelns im Augenblick und der vollen Klarheit der Achtsamkeit bedeutet ebenfalls, dass das Bisherige nicht abrupt beendet ist, sondern dass es sich um Umwandlungen und Transformationen handelt. Bei der Karma – Lehre ist es sicher unbestritten, dass es kein radikales Abschneiden gibt. In bestimmten materialistischen Sekten gab es zudem den Glauben an ein abruptes materielles Ende. Andere Linien lehnten die moralische Verantwortung ihrer Taten ab, sodass nach dem Tun keine Fortsetzung bestehen sollte.

Nicht-Dauerhaftigkeit:
Es gab die Doktrin der unverbundenen isolierten Ereignisse, die aus dem Nichts entstehen und sofort wieder abrupt enden. Sie dauern überhaupt nicht an. Durch irgendeine metaphysische nicht beobachtbare Verbindung sollte dabei die Verbindung zu einer Kette von Ereignissen hergesellt werden (Doktrin der Sautrantika). Nach Nagarjuna entspricht dies nicht der authentischen Lehre und ich folge ihm dabei.

Die bisherigen Ausführungen machen klar, dass es in unserem Leben und in der Welt nichts Ewiges und Dauerhaftes gibt, das beobachtet werden kann. Ewiges unterliegt der Fantasie, Spekulation und dem Glauben und ist oft eine „schöne“ Illusion der Menschen. Aber Prozesse haben auch ein Bestehen, das veränderlich ist und zum Vergehen überleitet.

Nicht den einen Zweck haben und Nicht-Einheit:
Mit dieser Aussage wird m. E. das Extrem der totalen Identität oder des absoluten  all-umfassenden Einen angesprochen. In der vorbuddhistischen Zeit wurde dieses Eine mit Brahman bezeichnet. Die Sehnsucht nach einem solchen Einen bestand aber auch im Buddhismus immer weiter fort und äußert sich sogar in der heutigen volks-buddhistischen Literatur. Es wird aber von Buddha als unrealistisches Extrem abgelehnt und bei klarer Sicht kann es in der Welt nicht beobachtet werden.

Es ist von zentraler Bedeutung für die Steuerung und Entwicklung in unserem Leben, dass wir uns zwar ein erreichbares Ziel setzen und einen übergeordneten sinnhaften Zweck verfolgen, zum Beispiel den Willen zur Wahrheit entwickeln. Es macht Sinn, anderen Menschen durch Bodhisattva – Handeln zu helfen, ohne unser eigenes egoistisches Ich aufzuwerten, also ohne eigene narzisstische Grandiosität zu handeln. Aber wer nur ein einziges fixiertes Ziel verfolgt, neigt zum Extremismus und vernachlässigt die Achtsamkeit des Handelns im Augenblick. Das lehrt auch die Geschichte der meisten Religionen. Man darf sich nicht auf fernliegende ideologische Ziele versteifen, sondern in voller Achtsamkeit im vielfältigen Hier und Jetzt handeln.

Nicht verschiedene Zwecke haben:
Hier wird das andere Extrem angesprochen, dass es totale Differenz und damit unverbundenes Chaos gibt. Im MMK werden also sowohl die totale Identität als auch die totale Differenz als Extreme abgelehnt. Die angesprochene Vielfalt wurde in den entsprechenden Doktrinen so verstanden, dass die Phänomene isoliert und voneinander unabhängig sind. Sie wurden als isolierte Entitäten verstanden, wie etwa unabhängige Atome als Bausteine der Welt. Nagarjuna lehnt solche absolute Differenz ab.

Auch unsere Zwecke und Ziele sollten nicht unabhängig und voneinander isoliert sein, es besteht dabei eine Wechselwirkung. Sie sollten eine gewisse Ordnung und Kohärenz haben und sich nicht radikal widersprechen. Wer die Gewinne des rücksichtslos materiellen Reichtums anhäufen will, kann schwerlich für andere Menschen das Bodhisattva – Handeln verwirklichen und menschliche Offenheit für andere entwickeln. Materieller Egoismus lässt sich mit Empathie für andere kaum vereinbaren, solche Zwecke widersprechen sich, sie zeugen von innerer Gespaltenheit und permanenten Verdrängungen. Und sie machen unglücklich. Es ist ein Irrtum der alten Wirtschaftwissenschaften, dass der Mensch ein egoistischer homo oeconomicos ist, wie die neue Gehirnforschung einwandfrei bewiesen hat.[8]

Der Zen-Buddhismus Dogens legt ein besonderes Gewicht darauf, dass uns unrealistische, unverbundene, absolute Ziele und Wünsche in gefährliche Illusions-Welten führen, die wir als solche oft nicht erkennen

Nicht-Ankunft:
Wenn wir absolute, ewige Substanzen für die Phänomene annehmen, sind diese schon immer in der Welt vorhanden. Für sie gibt es kein Ankommen und kein Weggehen. Das ist natürlich eine weltfremde Ideologie, denn wir können fortlaufende Prozesse des Ankommens beobachten. Dass wir in unserem Leben irgendwo ankommen, zum Beispiel in einer bestimmten Stadt, erscheint uns ganz selbstverständlich. Noch dringlicher ist uns oft das Ankommen in einem geistigen, psychischen oder spirituellen Zustand, wie etwa der Erleuchtung. Warum sollte es das nicht geben, auch wenn immer wieder Illusionen im Spiel sind?

Wie können wir diese Aussage außerdem verstehen? Vielleicht ist es auch eine Verbindung zur Wechselwirkung und zum gemeinsamen Entstehen in der Präambel, pratitya samutpada, angesprochen. Die Wechsel-Wirkung ist immer in zwei Richtungen wirksam und vernetzt, niemals nur in einer Richtung ( nicht uni-direktional)[9]. Durch ein zu simples und vordergründiges Verstehen des Ankommens als Entität wäre der Prozess nach dem Ankommen beendet. Wenn wir in einer Stadt, in einer Gruppe oder sonst irgendwo ankommen, bedeutet das, dass es dort weitergeht und dass das Ankommen nicht das totale Ende der Bewegung und des Prozesses ist. Bei der Wechsel-Wirkung geht es darum, dass eine Rückkopplung zustande kommt und erst dadurch überhaupt sinnvolle Gesamt-Prozesse realisiert werden.

Typisches Beispiel dafür ist unser eigenes Gehirn, das neuronale Netz, das in intensiver Wechsel-Wirkung durch die Areale und Moduln miteinander verbunden ist und mit den Input-Informationen von außen unsere bewussten und unbewussten Gehirnleistungen ermöglicht. Viele Buddhisten träumen vielleicht davon, in dem wunderbaren Zustand der Erleuchtung durch ein plötzliches Erlebnis anzukommen, und hoffen, dass dann alle Probleme schlagartig gelöst und ein völlig neuer und radikal besserer Zustand da ist. Ein solches unverbundenes Ankommen gibt es nicht. Große Zen- Meister betonen, dass man sich vorher diesen erleuchteten Zustand des Erwachens gar nicht realitätsnah vorstellen kann, sodass auch das „Ankommen“ in diesem Zustand nur real erfahren und nicht gedacht werden kann. Aber wie Dogen betont, geht dann das eigentliche Leben in „besserer Qualität“ weiter.

Nicht-Fortgehen:
Was für das Ankommen gilt, ist in ähnlicher Weise für das Fortgehen richtig. Unveränderliche absolute Entitäten sind schon immer in der Welt und enden und vergehen nicht. Sie können daher nicht fortgehen.

Im Buddhismus wird der Weg als Metapher für die menschliche Weiterentwicklung gewählt, zum Beispiel der Achtfache Pfad zur Überwindung des Leidens und der Weg zum Erwachen. Unser bisheriges Leben wird bei einer solchen Entwicklung nicht total abgeschnitten, wir gehen nicht total verändert aus einem alten Zustand fort, verlassen ihn nicht zu 100 % und gehen zu einer völlig neuen Existenz. Der Weg ist auch nicht materiell und physisch zu verstehen. Es gibt bei jeder Veränderung eine Verbindung und gewisse Kontinuität zum Bisherigen, gerade wenn sich dabei neue Freiheiten und kreative Möglichkeiten eröffnen. Die vereinfachten Modellvorstellungen von Weggehen und Ankommen bedürfen also einer genaueren Untersuchung für unser wahres prozesshaftes Leben. Wir verändern uns laufend und sind weder genau die selben noch total andere..

In der heutigen Zeit ist es durchaus üblich geworden, Partnerschaften und Ehen „einfach“ zu verlassen und zu beenden. Häufig besteht dann allerdings die Illusion, dass man aus bisherigen Problemen einfach fortgehen kann und in einer neuen wunderbaren Partnerschaft ankommt. Wenn jedoch keine menschlichen Entwicklungsprozesse, Selbsterkenntnisse und die Überwindung bisheriger Hemmnisse stattgefunden haben, ist dies in Wirklichkeit gerade kein psychisch geistiges Fortgehen und kein Ankommen bei etwas fundamental Neuem möglich. Der Kreislaufprozess von Illusionen, Ernüchterung, Frustration und Psycho-Kampf wiederholt sich einfach mit neuen „Objekten“.

Weitere Perspektiven der acht Negationen
Es gibt meines Erachtens eine weitere wichtige Perspektive der obigen genannten Negationen der acht zentralen Begriffe und der Bereiche des Buddhismus: Durch die Negation werden naive oder erstarrte Vorstellungen, Meinungen und Doktrinen dieser Begriffe im Grundsatz erschüttert und aufgebrochen, sodass ein lebendiger Reflexions-Prozess in Gang kommen kann. Wichtig ist auch die innere Dialektik unserer Begriffe: es bestehen semantische Verbindungen der positiven Bedeutung und deren Negation. Beides zusammen ergibt eine undogmatische umfassendere Semantik, die sicher von Nagarjuna angestrebt wird.

Dadurch werden neue Sichtweisen und ein neues umfassenderes eigenes Verständnis der buddhistischen Lehre und Praxis durch eigenes Erleben und Erfahren ermöglicht. Es handelt sich um einen dialektischen Prozess, der über These und Antithese in Gang kommt und sich dann als geistiger lebender Prozess fortsetzt. Vielleicht werden dabei Extreme gestreift, aber durch die jeweilige Antithese sind sie nicht festgeschrieben und fixiert sondern nur aufgehoben. Eine solche Fixierung wäre genau das Falsche beim Mittleren Weg, der von Nâgârjuna im MMK und bei Dogen gründlich untersucht wird. Es liegt nahe an die dialektische Philosophie Hegels anzuknüpfen, der einen solchen fortlaufenden Dreierschritt entwickelt hat, wie sich aus der These und Antithese die Synthese entwickelt, die wiederum Ausgangspunkt als neue These für den weiteren Vorgang ist.

Dabei wird die vorlaufende These nicht ausgelöscht sondern „aufgehoben“, steht als in gewandelter Form weiterhin für den Klärungsprozess zur Verfügung. Im Einklang mit Bertram[10] ist das letzte Kapitel von Hegels „Philosophie des Geistes“ „das absolute Wissen“ die Beschreibung des fortlaufenden Wissensprozesses, der kein Ende hat und keine endgültigen Ergebnisse liefert. Damit wären durch diesen Prozess ideologische Verhärtungen oder dogmatische Verengungen des Geistes und Wissens überwunden. Das Wissen ist also nicht ein ewiges unveränderliches Ergebnis-Wissen oder starres Resultat, sondern eine Methode und ein Prozess, wie man Wissen fortlaufend weiterentwickelt. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Nâgârjuna ähnliche methodische Überlegungen an den Anfang seiner Untersuchungen des Mittleren Weges stellt.

Durch die Negationen werden verengte Dogmen der Begriffe aufgebrochen, sodass sich eine neue Beweglichkeit entwickeln kann, die wiederum dem ursprünglichen lebendigen Weg des Gautama Buddha das Tor öffnen. Wie der bekannte Interpret des MMK, Kalupahana betont, hatten sich verschiedene wirklichkeitsfremde Lehrmeinungen entwickelt, die zum einen Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit postulierten (Sarvastivadins) und zum andern den abrupten Wechsel von Ereignissen von Nichts und Realität (Sautrantikas) behaupteten, ohne selbstähnliche Veränderungen und prozesshafte Interaktionen sinnvoll erklären zu können. Beide extremen Lehrmeinungen können einer solchen dialektischen Negation nicht standhalten: Die Dauerhaftigkeit hat keine Fortentwicklung und Erweiterung des Körpers und Geistes und der abrupte Wechsel kennt keine Verbindung von der These über die Antithese zur Synthese usw..

Zweiter Teil der Präambel
Nâgârjuna umreißt im zweiten Teil der Präambel durch die Formulierung pratitya samutpada, wechsel-wirkendes gemeinsames Entstehen, seinen zentralen Ansatz für das MMK und beruft sich dabei u. a. auf das authentische im frühen Buddhismus wiedergegebene sutta.
Ich halte Nâgârjunas Ansatz, die authentischen Lehren Buddhas durch Antithesen und Negationen in Verbindung mit Fehlentwicklungen bestimmter Lehrmeinungen und Sekten für fruchtbar, wenn auch nicht immer leicht zu verstehen. Dies gilt nicht nur philosophisch sondern auch ganz praktisch für unser Leben. Mein Lehrer Nishijima Roshi hat die maßgeblichen Aussagen des Zen – Buddhismus von Meister Dôgen mit Nâgârjunas Versen verbunden und damit als erster einen großen Schritt zur Integration dieser beider Bereiche getan. Ich folge diesem Ansatz und habe mich entschlossen, ausgewählte Themen der Texte Dôgens an die entsprechenden Kapitel Nâgârjunas anzufügen.

Ich hoffe, dass damit buddhistische Kernaussagen eine spannende Erweiterung und neue Perspektiven erhalten. Teilweise geht es dabei um relativ klar abgegrenzte Themen, wie zum Beispiel beim Kapitel der Zeit bei Nâgârjuna und die Sein – Zeit bei Dôgen. Es ist aus meiner Sicht spannend und weiterführend, dass etwa eine Zeitspanne von tausend Jahren zwischen den Arbeiten Nâgârjunas und Dôgens liegt und zwei große menschliche Kulturen den Buddhismus prägten. Da ich außerdem einen direkten Bezug zu den authentischen suttas Buddhas gesucht habe, wird damit eine Entwicklungszeit von circa 2.500 Jahren Buddhismus direkt in unseren Blick gerückt. Nagarjuna und Dogen markieren zweifellos Höhepunkte der buddhistischen Weisheit und Praxis!

Damit gewinnen die acht obigen Kernpunkte der Fehlentwicklungen Nâgârjunas nicht nur ein scharfes Profil innerhalb der Präambel mit der Verbindung des wechsel-wirkenden gemeinsamen Entstehens, sondern auch zu Dôgens kaum zu überschätzende Texte aus der Blütezeit des chinesischen Chan- und japanischen Zen – Buddhismus.

Zur Ruhe Kommen der wegführenden Fehlentwicklungen
Aber wie können wir nun die obigen Fehlentwicklungen beenden, wie kommen sie zur Ruhe und wo finden wir den Mittleren Weg, der zerstörerische Extreme vermeidet und unsere Weiter- und Fortentwicklung fördert? Wie können wir Gier, Hass und die Verblendung falscher Sichtweisen überwinden? Wie erlangen wir Freiheit, Emanzipation und Erleuchtung? Dazu brauchen wir zweifellos Klarheit im Körper und Geist und geübte Kräfte zum rechten Handeln.

Der grundsätzlich richtige Weg wird im zweiten fulminanten Teil der Präambel vorgestellt und später im MMK genauer interpretiert. Nagarjuna sagt völlig klar und eindeutig, dass er Gautama Buddha als den "besten der Sprechenden" und Lehrenden schätzt und hoch verehrt, und unterstreicht damit sein Vertrauen in die authentische Lehre.

Es ist richtig, dass wir für die nicht leicht zu verstehenden Verse Nagarjunas selbst Achtsamkeit, Konzentration und wachsende Klarheit benötigen. Aber wenn "wir dran bleiben", wird der alte Text ganz neu zu uns sprechen, ja der Text wird in einen lebendigen Dialog mit uns eintreten. Was dabei herauskommt, können und sollten wir vorher gar nicht unbedingt genau festlegen.

Von besonder Bedeutung ist zweifellos die Klarheit darüber, was Nagarjuna mit wechsel-wirkendem „gemeinsamen Entstehen“, pratitya samutpāda, sagen will und wie er es von dem obigen falsifizierten , nicht gemeinsamen Entstehen, anutpāda, abgrenzt.

Nagarjuna gilt als Hauptvertreter der damals weitgehend neuen Richtung der Leerheit des Mittleren Wege des Madhyamaka und Mahayana. Im MMK können wir daher die genaueste Analyse des oft mystifizierten oder missverstandenen Begriffs der Leerheit finden. Oder anders gesagt: Wer die Leerheit nicht aus dem MMK sondern aus anderen nicht zuverlässigen Texten ableitet, wird kaum Klarheit zur Bedeutung der Leerheit gewinnen können. Wesentlich ist der Zusammenhang von wechsel-wirkendem gemeinsamen Entstehen und dem Begriff der Leerheit.

Und weiter: Was versteht Nagarjuna unter „wegführenden Fehlentwicklungen“, die die wahre Lehre verlassen, in die Irre gehen und den Befreiungsweg verstellen. Dies meint, dass wir uns in einem Gestrüpp unklarer Begriffe, erstarrter Vorstellungen und falscher Handlungen verlieren!

Nagarjuna geht es m. E. um das klare Verständnis von Dingen, der Materie und anderen Phänomenen der belebten Welt und Natur: Was ist die Wahrheit und was ist ein gutes Leben in unserer Welt? Die Festkörper-Physik lehrt uns bereits heute die Wechselwirkung der Materie. Sie ist in der Tat ein universelles Prinzip, sei es in lebenden oder nicht lebenden Systemen.

Gibt es nun unabhängige, absolute Wahrheiten und entsprechende verborgene Substanzen und Entitäten, die uns Sicherheit und Halt in unserem Leben geben können, nach denen sich so viele Menschen sehnen? Populistische, dogmatische oder gar extremistische Antworten würden uns dabei noch tiefer in Unsicherheiten und wegführenden Fehlentwicklungen stürzen; es ist also Vorsicht geboten.

Ohne in eine zu komplexe Diskussion einzusteigen, soll nun kurz eine erste Deutung gegeben werde, die sich auch auf den großen Buddhologen Kalupahana[11] stützt.
Die wichtigen Themen des MMK werden der Präambel, wie in einer Ouvertüre, kurz vorgestellt, um später vertieft und umfangreich ausgeführt zu werden. Wir dürfen dabei nicht vergessen: MMK ist ein Lehr-Gedicht, oder wie Nishijima Roshi sagte, ein Gesang.

Ergebnis
Im ersten Teil werden acht Negationen von zentralen buddhistischen Begriffen aufgeführt. M. E. ist es sinnvoll sie semantisch auch auf ihre jeweiligen positiven Begriffe zu beziehen, um den vollen Umfang der Bedeutungen zu erkennen. Es handelt sich nicht um absolute unabhängige Negationen, sondern um ihren erweiterten Bedeutungsumfang, der philosophisch durch die Verbindung von positiver und negativer Formulierung erreicht wird. Die Unterscheidung und Negation ist nicht jeweils isoliert und absolut zu verstehen, sondern maßgeblich ist gerade ihre Verbindung.

Das kann philosophisch als „Ganzheit der Differenz“ verstanden werden. Dabei ist die Differenz gerade nicht absolut, sondern als relative Unterscheidung bei gleichzeitiger Verbindung zu verstehen. Der positive und negative Begriff haben eine inhärente Differenz, dabei eine inhärente Beziehung zueinander (vgl. „Arbeit des Negativen“ bei Hegel) [12]Dieses Verständnis hat große Bedeutung für den späteren Buddhismus des Madyamika und Mahayana, wie z. B. für das Herz-Sutra. Falsch verstandene Deutungen haben sicher dazu beigetragen, dass Nagarjuna immer wieder als Nihilist missverstanden wurde.

Nach meinem Verständnis gibt es in der Präambel zwei Schlüsselbegriffe, die fundamentale Bedeutung haben und auch in das große Werk des MMK einführen:
Wechsel-wirkendes gemeinsames Entstehen“ als konstruktive positive Aussage der buddhistischen Befreiung und des Neuanfanges.

Nicht-Entstehen“ als Verharren und Festhalten an alten, verhärtenden und prägenden Leid-bringenden Mustern und Verhalten, sodass weder Befreiung noch Neuanfang zur Erleuchtung gelingen können. Das „Nicht-Entstehen“ sollte m. E. begrifflich inhärent dialektisch verstanden werden.[13] Es ist ohne Beziehung zum positiven„Verstehen“ in der Wechselwirkung unbrauchbar.

Was soll damit gesagt werden? Beide Male verwendet Nâgârjuna den Sanskrit-Begriff utpada, der Entstehen bedeutet, und einmal positiv in der Verbindung mit „sam“, das zusammen, gemeinsam und kombiniert bedeutet, also gemeinsames Entstehen, und einmal in der Form der Negation, gewissermaßen die fehlende Entwicklung, das Nicht-Entstehen. Nâgârjuna verneint eine verengt dinghafte und erstarrte Vorstellung und Ideologie des isolierten Nicht-Entstehens von Phänomenen ohne wirkliche Veränderungen und Prozess-Charakter.

Lebendiges Entstehen gelingt in Wechselwirkung und nicht isoliert allein aus sich selbst. Er setzt dem das richtige prozesshafte gemeinsame Entstehen in Wechsel-Wirkung entgegen. Die Wechsel-Wirkung kann nur in zeitlichen, vernetzten Prozessen ablaufen und verstanden werden. Dies ist ein unverzichtbares Verständnis der dynamischen Wirklichkeit in der Welt, ganz gleich wie genau man sie im Detail oder als Ganzes analysieren und verstehen kann.

Denn die Wirklichkeit von vernetzen Systemen, z. B. der Ökologie und des neuronalen Netzes unseres Gehirns, kann nach heutiger gesicherter Kenntnis nur sinnvoll durch rückgekoppelte Prozesse in Verbindung mit entsprechenden Strukturen beschrieben werden. Wechselwirkung ist daher für alles Lebendige der Welt typisch und charakteristisch; eine Beschreibung durch eindimensionales unidirektionales „abhängiges Entstehen“, wie bisher meist im Buddhismus üblich, ist verengt und reicht nicht aus, vielleicht hat ein solches Verständnis manche Irrtümer zur Folge gehabt. M. E. wird mit diesem Paradigmenwechsel die Verständlichkeit, Klarheit und Wirkkraft des MMK nachhaltig verbessert.

Nagarjuna wählt dabei exemplarisch markante Begriffspaare in der Präambel, die sicher in seiner Zeit im Buddhismus häufig verwendet, aber wohl auch sektiererisch falsch verstanden wurden. Für das unzureichende Verständnis verwendet er die Formen der Negation und Destruktion und kennzeichnet damit die Sichtweise ohne Veränderungen, Entwicklungen und Emanzipation. Wir sollten ein isoliertes und erstarrtes Verständnis heute im Westen besonders gründlich analysieren, wo der Individualismus aus den Fugen geraten ist und wo Fakenews, ein hohler Materialismus und übersteigerter Egoismus um sich greifen. Das kann helfen, dass kein falsches Verständnis des Buddhismus aufkommt.

Ein ähnliches Begriffspaar verwendet Nâgârjuna für „nicht zur Ruhe kommen“ und „angenehmes Aufhören der wegführender Fehlentwicklung. Denn unser Gleichgewicht zu finden, zur Ruhe zu kommen und den Mittleren Weg zu gehen sind zweifellos zentrale Eckpunkte des Buddhismus. Sie können aber nur verstanden werden, wenn prozesshafte Wechsel-Wirkung, Werden und Emanzipation einbezogen werden. Das heißt, dass wir in unserem Leben nicht zur Ruhe kommen, wenn wir von isolierten, dinghaften Phänomenen und ewigen unsichtbaren Substanzen ausgehen, die sogar durch Magie beeinflusst werden können. Durch falsche Sicherheiten und substanzhafte Weltanschauungen entstehen gerade Unruhe und Hektik. Dann würden wir die erkennbaren wechsel-wirkenden Veränderungs-Prozesse vernachlässigen oder verdrängen. Dies ist aber ein typisches Merkmal statischer und erstarrter Doktrinen, Weltanschauungen und Ideologien.







[1] Vgl. Kant zur Definition von Vernunft und Verstand. Ähnlich bei Georg W. Bertram Hegels „Phänomenologie des Geistes“, S. 322 f.
[2] Hegel in Georg W. Bertram Bertram
[3] Kalupahana, Casuality
[4] Peter Gäng, Achtsamkeit
[5] Kalupahana, MMK
[6] Manfred Spitzer
[7] Peter Gäng, Achtsamkeit
[8] Manfed Spitzer
[9] Joana Macy
[10]  Hegel zitiert in Georg W. Bertram
[11] Kalupahana, MMK
[12] Hegel Phänomenologie des Geistes, „Arbeit des Negativen“, zitiert in Georg W. Bertram, S. 316 f.
[13] Hegel, zitiert in Georg W. Bertram