Samstag, 3. Januar 2015

Kôdô Sawaki : Ein großer Zen-Meister oder ein japanischer Militarist?

(Yudo J. Seggelke mit Eberhard-Gensa Kügler)


Zen-Meister Kôdô Sawaki in der Zazen-Meditation. Historisches Foto ca. 1960


Kôdô Sawaki gilt in Japan und in Zen-Kreisen der ganzen Welt als herausragender Meister der neueren Zeit, er lebte von 1880 bis 1965 und hatte mehrere sehr bedeutende Schüler, u. a. die Meister Taisen Deshimaru, G. W. Nishijima und Kosho Uchiyama. Dieser schreibt über ihn:

"Sawaki war ein alter Zen-Meister: furchtlos und unkonventionell".[1]

Kôdô Sawaki hat auch aus meiner Sicht Hervorragendes geleistet: Er hat die Grundlagen für das Verständnis des wohl wichtigsten Werkes des Zen und des Buddhismus von Meister Dôgen geschaffen: Shôbôgenzô, Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, und er hat der Meditation des Zazen einen zentralen unverzichtbaren Stellenwert auf dem buddhistischen Übungsweg gewiesen. Gerade die Meditation gewinnt unbestritten in unserer heutigen fragmentierten hektischen Zeit immer mehr an Bedeutung.

Der wahre Buddhismus ist nach Dôgen und Nishijima Roshi immer im Einklang mit Ethik: er ist die Einheit der Teilwahrheiten des Idealismus und  Materiellen, dem praktischen Handeln und Erwachen. Es gibt viele gewichtige Stimmen, die Kôdô Sawaki für den zentralen Zen-Meister im Übergang zur Moderne durch das dunkle Zeitalter des japanischen Imperialismus und Nationalismus halten. Er habe den wahren Zen durch diese Zeit gerettet: die Lehre Meister Dôgens, die wahren Berge, Wasser und Kiesel, das Handeln im Hier und Jetzt und das große Erwachen, die Erleuchtung.

Ganz anders schreibt der amerikanische Autor Brian Victoria über Kôdô Sawaki, der in jungen Jahren zum Militärdienst im japanisch-russischen Krieg eingezogen und dabei schwer verwundet wurde:

"Obwohl Kôdô selbst nie mehr an einem Krieg teilnahm, unterstützte er die Einheit von Zen und Krieg auch weiterhin".[2]

Offensichtlich will Brian Victoria mit seinem Buch, englischer Titel: "Zen at War" nach umfangreichen Recherchen vor Ort in Japan der bis dahin wenig untersuchten Verbindung des japanischen Militarismus mit dem Zen auf den Grund gehen. Er will durch drastische Zitate bislang unbekannter oder wenig beachteter Quellen wichtige Zusammenhänge aufzeigen, die den all zu gläubigen Zen-Anhängern sicher nicht angenehm sein mussten: Sein Buch will m. E. aufrütteln oder sogar provozieren. Er will damit eine Seite des Zen aufzeigen, die schwerlich als Buddhismus verstanden werden kann. Daher wählte er den Weg einer einseitig kritischen Beschreibung als Antithese zu einem bis dahin unkritischen Verständnis des Zen. Das ist zweifellos notwendig gewesen und man muss fragen, warum dies erst mit seinem Buch 1997 erfolgt ist.

Wir sind nun aufgefordert, unsererseits zu untersuchen, wo die methodische Einseitigkeit möglicherweise übertrieben wurde oder wo die Kritik zu undifferenziert wurde. Erst dadurch kann ein realistisches und ausgewogenes Bild jener japanischen Epoche aufscheinen und als Grundlage der weiteren Entwicklung auch des Zen im Westen dienen. Denn hierarchische und militaristische Züge sollten wir im Westen wirklich nicht übernehmen, sie sind sicher nicht mit dem Anliegen Gautama Buddhas vereinbar.

Ich möchte hier einige Überlegungen und Analysen speziell zu Kôdô Sawaki einbringen. Ist Brian Victorias Kritik an diesem Zen-Meister vertretbar oder schießt sie über eine valide Darstellung hinaus? Ist der Autor mit seiner Idee der kritischen Darstellung vielleicht seinen eigenen Vorannahmen erlegen und interpretiert die aufgeführten Zitate vor diesem Hintergrund zu einseitig? Unterlaufen ihm deshalb letztlich auch hermeneutische Fehler?

Was sagte Kôdô Sawaki nun selbst zum Krieg:

"Auch ich bin allen Ernstes (als junger Mensch) in den Japanisch-Russischen Krieg gezogen", aber jetzt sehe er ein," dass wir das, was wir da getan haben, besser sein gelassen hätten. Überhaupt ist es besser, von vornherein keine Kriege zu führen".[3]

Das ist das Gegenteil dessen, was Brian Victoria in dem vorgelegten Buch über ihn behauptet und was, sollte es stimmen,  Kôdô Sawaki moralisch sehr belasten würde.

Im folgenden möchte ich nun diese Fragen einer ersten vertieften Analyse unterziehen. Weitere Forschungen sind sicher notwendig. Können wir die Aussagen von Brian Victoria akzeptieren und müssten daher unser Bild von Kôdô Sawaki deutlich ändern?

Was sagt Nishijima Roshi dazu? Er war zwanzig Jahre lang Schüler von Kôdô Sawaki und kannte ihn so genau wie kaum ein anderer. Er nahm 1940 an seiner ersten Sesshin mit ihm teil und sah in Kôdô Sawaki seinen wesentlichen Lehrer:

„Als ich seinen Reden lauschte, war ich tief ergriffen, weil ich zum ersten Mal die wahre großartige buddhistische Lehre hörte“.[4]

Er sagt über Kôdô Sawaki:

„Bereits in jungen Jahren hatte er sich sehr intensiv mit dem Buddhismus beschäftigt, sodass seine buddhistische Lehre außerordentlich genau und auch theoretisch sehr fundiert war. Daher waren seine Dharma-Vorträge umfassend und sehr exakt. Obgleich die Grundlage des Buddhismus bei Kôdô Sawaki eindeutig die Zazen-Praxis bildete, lehrte er auch eine sehr logische philosophische Struktur des Buddhismus“.

Nishijima Roshi weiter:
„Ich denke, dass das wichtigste und hervorragendste Wesensmerkmal bei Meister Kôdô Sawaki vor allem sein vollkommen reines Verhalten darstellte, immer der Wahrheit zu folgen“. Und führt aus: „Ein Mensch, der keine Aufrichtigkeit bei der Wahrheit kennt, kann keinen Zugang zum Buddhismus finden“.

„Wir können mit Sicherheit annehmen, dass Meister Kôdô Sawaki diese grundlegende buddhistische Regel genau kannte und in seinem Leben verwirklicht hat.“

Nishijima schreibt zur Kritik von Brian Victoria:
„Der Amerikaner Brian Victoria [veröffentlichte] ein Buch, in dem er harsche Kritik an Meister Kôdô Sawaki äußerte, weil dieser die Kriegspolitik der japanischen Regierung unterstützt haben soll. Wenn man jedoch das menschliche Verhalten und Handeln von Kôdô Sawaki während des Krieges kennt, so wie ich es selbst erlebt habe, wird ganz klar, dass er niemals in der behaupteten Art und Weise aktiv mit der damaligen Regierung zusammen gearbeitet hat.

Ich bin daher zu dem eindeutigen Schluss gekommen, dass der Autor die Tatsachen im Falle von Meister Kôdô Sawaki verzerrt und unrichtig wiedergegeben hat. Warum Brian Victoria so handelte, weiß ich nicht und ich kann es auch nicht nachvollziehen.“[5]

Nishijima Roshi erzählte mir auf meine Fragen hin 2007 in einem langen persönlichen Gespräch seine eigenen konkreten Erfahrungen mit Brian Victoria. Er habe diesen in Japan mehrere Male getroffen, ohne dass er damals wusste, dass Brian Victoria an einem kritischen Buch über den Zen-Buddhismus im Zweiten Weltkrieg schrieb, denn er war offiziell in der Ausbildung eines Sôtô-Priesters. Er habe aber keine einzige Frage zu Kôdô Sawaki an ihn gerichtet. Er selbst hätte dann auch die kritischen Seiten des Zen beleuchtet.

Es ist in der Tat verwunderlich, dass Brian Victoria einen der wenigen Zeitzeugen und Schüler nicht befragte, als er sich mit Kôdô Sawaki beschäftigte, sondern sich nur auf bis dahin weitgehend ungeprüfte schriftliche Vorlagen stützte. Deshalb muss geprüft werden, ob sie methodisch geprüft und in entsprechend kritischer Weise aus dem Japanischen übersetzt wurden. Ich werde dazu erste Ergebnisse nennen. Die Übersetzung aus dem Japanischen war für ihn als Autor sicher eine Herausforderung, denn kaum jemand im Westen konnte seine Übersetzungen begleiten, denn für Dritte war zur Zeit der Entstehung des Buches ein korrektes Quellenstudium schwierig oder gar unmöglich.

Man muss wohl daraus den Schluss ziehen, dass Brian Victoria nur ein sehr persönliches, interessensgeleitetes Bild von Kôdô Sawaki zeichnen konnte. Da er –wissenschaftliches Neuland betretend und ohne institutionelle Unterstützung erwarten zu können -  kritisches Material für sein Buch sammelte, hatte in Japan kaum jemand davon Kenntnis. Da ich selbst vierzehn Jahre lang sehr eng mit Nishijima Roshi zusammengearbeitet habe und ihn auch persönlich sehr gut kannte, halte ich diese Einschätzung für sehr vertrauenswürdig und begründet.

Besonders umstritten bei den Kritikern Kôdô Sawakis ist sein Verhalten im Russisch-Japanischen Krieg, als er noch sehr jung war. Nishijima Roshi schilderte die wirklichen Ereignisse wie folgt: Seine Einheit sei in einen Hinterhalt geraten und nur durch sein schnelles und mutiges Handeln sei eine größere Gruppe japanischer Soldaten vor dem sicheren Tod gerettet worden. Kôdô Sawaki habe dafür eine besondere Auszeichnung und einen größeren Geldbetrag erhalten; diesen verwendete er später für die Publikation buddhistischer Bücher.  Die Auszeichnung habe er selbst niemals besonders hervorgehoben, weil er sein Handeln für normal angesehen habe, um andere zu retten. Dass er von der Obrigkeit zum Kriegshelden hochstilisiert wurde, sei überhaupt nicht seine eigene Absicht und ihm fremd gewesen.

Ich muss noch einmal wiederholen, dass ich es in der Tat für notwendig und sinnvoll halte, dass die Frage des Zen und des japanischen Nationalismus im Krieg kritisch durchleuchtet wird. Es könnte aber sein, dass Kôdô Sawaki gerade das falsche Beispiel für diese Kritik ist. Wir werden sehen.

Es drängt sich die Vermutung auf, dass sich Brian Victoria zunächst die japanischen Quellen sehr auf seine Thesen fokussiert auswählt und übersetzt, um dann im Falle Kôdô Sawaki moralisch heftig und empört zu kritisieren, ein weniger wissenschaftliches als essayistisches Vorgehen. Möglicherweise war es nicht sein Ziel, ein spannendes und zugleich sachkundiges und valides Buch zum Zen zu schreiben, sondern gezielt zu provozieren und polarisieren, um eine überfällige Diskussion anzustossen. Das kann natürlich Sinn machen, allerdings sollte man bei der einseitigen Kritik nicht stehen bleiben.

Schauen wir uns die vom Autor verwendeten Zitate einmal genauer an.
Brian Victoria zitiert Kôdô Sawaki, der sich auf das Lotus-Sûtra bezieht:[6]

„...alle fühlenden Wesen sind meine Kinder" Weiterhin:" Aus dieser Perspektive betrachtet sind alle Wesen, die existieren, ob Freunde oder Feinde, meine Kinder. Höher gestellte Offiziere sind ebenso ein Teil meiner Existenz, wie ihre Untergebenen. Das gilt auch für Japan und die ganze Welt.“
In diesem Teil über das Lotos-Sutra kann wirklich kein militaristischer Nationalismus entdeckt werden. Kôdô Sawaki spricht das Gleichnis des brennenden Hauses an: Der Vater rettet die spielenden Kinder vor der tödlichen Gefahr der Flammen und schafft es tatsächlich, mit Ihnen ins Freie zu kommen. Damit ist die Freiheit durch den buddhistischen Weg gemeint.

Hat dieser Hinweis vielleicht sogar eine tiefere Bedeutung für das damalige militaristische und imperialistische Japan? Für Nishijima Roshi auf jeden Fall: Er sagte mir sehr klar, dass ohne diesen furchtbaren Krieg Japan wohl nicht die alten unmenschlichen Ideologien und Verhärtungen überwunden hätte. Es liegt nahe, dass Kôdô Sawaki dass selbe ausdrücken wollte: Japan war ein brennendes lebensgefährliches Haus, aus dem die Menschen entkommen konnten und mussten, um eine neue Freiheit zu erlangen. Und genau so entwickelte sich Geschichte nach dem Krieg und der Niederlage Japans. Aber ist das wirklich eine Niederlage im buddhistischen Sinne? Sicher nicht.

Nun kommt aber das entscheidend Zitat nach Brian Victoria:

„Ob man tötet oder nicht tötet, das Gelöbnis, welches das Töten verbietet (wird erfüllt)". Dieser Klammerzusatz von Brian Victoria ist im Original nicht enthalten. 
Das Zitat geht weiter: "Das Gelöbnis, welches das Töten verbietet ist es, das das Schwert führt. Es ist dieses Gelöbnis, das die Bombe wirft. Studiert also dieses Gelöbnis und setzt es in die Tat um“.

Brian Victoria versteht Meister Kôdô Sawaki ausweislich dieses Zusatzes so, dass Töten und Bombenwerfen nach dem buddhistischen Gelöbnis unabhängig vom ethischen Willen des Individuums geschehen und dass der einzelne Mensch dafür keine Verantwortung übernehmen müsse. Das heißt:

Das Gelöbnis nicht zu töten, sei immer erfüllt, ob man tötet oder nicht.

Man könne also beliebig töten oder nicht töten! Dieser Zen basiere gerade auf diesem Paradox, töten und nicht töten sei das selbe. Das ist m. E. ein völlig absurdes Verständnis des Zen, das von Meister Dôgen im Shôbôgenzô selbst radikal kritisiert wird.

(Zudem ist dem deutschen Übersetzer ein Fehler unterlaufen: Im Englischen wird das Wort "precept" verwendet, das für "Gelöbnis" steht. In Deutsch wurde aber "Regel" genommen, das zwar im Lexikon steht, aber buddhistisch nicht richtig ist. Dadurch verschiebt sich die Bedeutung, denn Dôgen betont gerade das jeweils ganz Konkrete der Ethik: für den besonderen Menschen durch sein eigenes Gelöbnis in der konkreten Situation.)

Der Autor Brian Victoria sagt damit nichts anderes, als dass Kôdô Sawaki das Lotos-Sutra und die Gelöbnisse im Sinne des Militarismus so interpretiert, dass jedes Töten im Krieg gerechtfertigt sei.

Dem folge ich nicht, denn damit verkehrt er den Sinn des von Sawaki Geäußerten in sein Gegenteil. Meister Kôdô Sawaki sagt für mich unmissverständlich, dass das buddhistische Gelöbnis, nicht zu töten, auch und gerade im Krieg gilt. Es gelte nicht nur für das Schwert, wie früher, sondern und gerade auch für moderne Waffen im Zweiten Weltkrieg, der bekanntlich in Ostasien mit großer Grausamkeit geführt wurde.

Der Klammerzusatz "wird erfüllt" wurde von Brian Victoria selbst zugesetzt, er ist ganz wesentlich für den Sinn, wie er ihn versteht; aber er ist eigentlich unlogisch und für mich auch unverständlich. Ohne diesen eigenen Klammerzusatz entfällt aber die gesamte Kritik. Es müsste m. E. nämlich ganz einfach heißen: das buddhistische "Gelöbnis, welches das Töten verbietet (gilt immer)". Es gilt also unter allen Umständen, selbst wenn es Krieg ist, der das Töten vielleicht in einer konkreten Situation notwendig macht.

Brian Victorias Interpretation basiert also auf seinem eigenen Zusatz „wird erfüllt“. Ich gehe davon aus, dass dies auch seinem Verständnis entspricht. Diese Formulierung gibt es allerdings im Original nicht. Aus meiner Sicht wäre es korrekt wie oben zu schreiben: "Ob man tötet oder nicht, das Gelöbnis, welches das Töten verbietet, (gilt immer und überall, selbst im Krieg)". Damit verkehrt sich der Inhalt der Aussage natürlich in sein Gegenteil. Kôdô Sawaki will nach meiner Interpretation sagen, dass auch und gerade im Krieg die buddhistische Forderung ganz allgemein gilt, die das Töten verbietet. Und zwar ganz gleich, ob die Soldaten mit Schwertern oder mit Bomben kämpfen. Das ist besonders wichtig, weil man bei Bomben sein eigenes Töten gar nicht direkt sieht.

Kôdô Sawakis letzter Satz:

Studiert also dieses Gelöbnis und setzt es in die Tat um“

ist danach die direkte Aufforderung an die japanischen Soldaten, gemäß Buddhismus immer human zu handeln und sich des eigenen buddhistischen Gelöbnisses immer bewusst zu sein, dass man eigentlich nicht töten darf. Dies ist im Übrigen das erste und zentrale der buddhistischen Gelöbnisse. Dadurch macht Kôdô Sawaki deutlich, dass auch und gerade im Krieg so viele Leben wie möglich gerettet und geschont werden müssen. Dies ist für mich besonders überzeugend, da er den Krieg und das Töten als junger Soldat selbst erleben musste!

Durch den Klammerzusatz von Brian Victoria, der im Original nicht vorhanden ist, entsteht der Eindruck, dass auch beim Töten das Gelöbnis erfüllt ist, dass man nicht töten darf. Das ist für mich logisch nicht richtig, da das persönlich abgelegte Gelöbnis nach wie vor gilt und in Kraft ist, es kann selbst in schwierigsten Situationen nicht negiert werden und wir tragen auch im Krieg dafür Verantwortung. Auf der Grundlage seines eigenen Klammerzusatzes entwickelt Brian Victoria dann seine fundamentale Kritik an diesem großen Zen-Meister. Die Kritik basiert in diesem Fall also auf dem Zusatz des interpretierenden Autors; ohne diesen wird die Kritik gegenstandslos.

Resümee´ dazu: Aus meiner Sicht sagte Kôdô Sawaki ganz klar, dass die japanischen Soldaten im Sinne des Buddhismus auch im Kriege die buddhistischen Gelöbnisse soweit es irgend möglich ist, einhalten sollen, um nicht zu töten. Dass dies eventuell von vielen japanischen Soldaten ganz anders gehandhabt wurde, war sicher auch Kôdô Sawaki bekannt. Vielleicht hat er sich gerade deswegen so klar dagegen geäußert.

Nun soll ein weiteres Zitat Brian Victorias genauer analysiert werden. Dabei steht die Aussage Nishijima Roshis wieder eindeutig im Gegensatz zum Autor, so dass wir uns auch hier um Klärung bemühen müssen.

Es geht dabei um das Kapitel 92 von Dôgens Shôbôgenzô (Schatzkammer des wahren Dharma-Auges): "Shôji, Leben und Tod". Wesentlicher Inhalt dieses kurzen Kapitels ist es, das Leben im Hier und Jetzt zu führen und uns nicht von Ängsten und dunklen Gedanken an den Tod beeinträchtigen zu lassen, dass der Tod also nicht das Leben behindert. Das Leben sei eine eigene Wirklichkeit genauso wie der Tod, aber beide sollten sich nicht negativ beeinflussen und hindern. Da in Japan 1943 bereits das große Sterben begonnen hatte, ist dies sicher ein ganz wichtiger Hinweis. Nishijima Roshi erzählte mir einmal, dass von seinem eigenen Jahrgang etwa 90% der Männer im Kriege umgekommen seien und er selbst nur deshalb überlebt hat, weil er aus er Mandschurei zur Verteidigung des japanischen Kernlandes zurück nach Japan beordert wurde. Viele seien auch durch Hunger gestorben.

Für jeden nachdenkenden Menschen in Japan war klar, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. Die Aufgabe eines Priesters ist es selbstverständlich, in solchen katastrophalen Zeiten des Tötens und Sterbens den Menschen Trost und Rückhalt zu geben, was überhaupt nicht bedeutet, dass man den grausamen Krieg unterstützt.

Wie übersetzt nun Brian Victoria den maßgeblichen Text dieses Kapitels des Shôbôgenzô? Um es vorweg zu sagen: seine Übersetzung und sein Verständnis ist in Fachkreisen stark umstritten. Ich selbst arbeite z. B. mit der Fassung von Nishijima/Cross, die den Inhalt Dôgens unbestritten verlässlich wiedergibt. Diese präzise Übersetzung der wichtigen Passage lautet:

„Wenn wir genau unseren eigenen Körper und unseren eigenen Geist loslassen und sie in das Haus Buddhas werfen, werden sie an der Seite Buddhas ins Handeln gebracht. Wenn wir fortfahren dies zu befolgen, ohne irgendeine Kraft auszuüben und irgendeinen Geist zu benutzen, werden wir von Leben und Tod befreit und werden Buddha“.

Mit diesen Formulierungen ist nach Nishijima Roshi die Zazen-Praxis gemeint, bei der wir nach Dôgen „Körper und Geist fallen lassen“. In diesem Zustand der Meditation gewinnen wir also Klarheit und Zuversicht im Hier und Jetzt, auch und gerade in sehr schweren Zeiten des jederzeitigen Todes.

Wie übersetzt nun Brian Victoria diesen zentralen Text?[7]

„ ....Wenn du der Anleitung, die du erhältst, folgst, wirst du dich von Leben und Tod befreien und ein Buddha werden, ohne dass du dich dazu körperlich oder geistig anzustrengen brauchst."

Diese Formulierung scheint Kadaver-Gehorsam zu fordern, mit der Behauptung, man werde dadurch zum Buddha. Der Sinn ist m. E. etwas ganz anderes: man soll gerade in solchen schwierigen Zeiten Zazen praktizieren und sich der Praxis und Lehre des Buddha anvertrauen, also im Einklang mit Buddha handeln. Brian Victorias eigene Formulierung „ohne dass du dich körperlich oder geistig anzustrengen brauchst“ bedeutet also ganz und gar nicht, dass man den Befehlen des Vorgesetzten blind folgen soll, ganz gleich, was sie beinhalten mögen, sondern das Gegenteil der eigenen Verantwortung und Klarheit im Augenblick. Brian Victorias eigene Formulierung dazu: „Wer dies tut, wird augenblicklich zu einem getreuen Gefolgsmann des Kaisers und zu einem vollkommenen Soldaten“ liegt m. E. vollkommen daneben, weil es sich gerade um die Befolgung der buddhistischen Lehre auch in den schwierigen Kriegszeiten handelt.

Dieses wichtige Kapitel 92 schließt in der allgemein anerkannten Übersetzung von Nishijima:

„Es gibt einen sehr einfachen Weg, Buddha zu werden: kein Unrecht zu tun, ohne Anhaftung an Leben und Tod zu sein, tiefes Mitgefühl für alle Lebewesen zu haben, die Höheren zu achten und mit den Niedrigen Mitgefühl zu haben, frei von einem Geist zu sein, der die tausend Dinge des Lebens ablehnt und frei von einem Geist zu sein, der sie begehrt, einen Geist zu haben ohne (eindimensionales) Denken und ohne Gram: dies wird Buddha genannt. Sucht nichts sonst.

Damit ist für mich ganz klar, was Kôdô Sawaki meinte.

Insgesamt ist es verwunderlich, dass im umfangreichen Literaturverzeichnis dieses Buches Meister Dôgen und das Werk Shôbôgenzô  nicht genannt werden, obgleich der Autor selbst der Sôtô-Linie des Zen-Buddhismus angehört, die Dôgens Werk zur wesentlichen Grundlage hat. Ist das Nachlässigkeit oder Absicht? Dies verwundert um so mehr, weil viele von Brian Victoria in seinem Buch aufgeworfenen Fragen und Unsicherheiten relativ einfach anhand des Shôbôgenzô mit seinen 95 Kapiteln beantwortet werden könnten. Dann würde sich die gesamte Problematik in der Weise verschieben, dass zu fragen ist, warum Dôgens fulminantes Werk insgesamt und im Einzelnen zu wenig bekannt war und warum das Verhalten mancher Japaner im Zweiten Weltkrieg davon radikal abweicht. Aus meiner Sicht wollte Kôdô Sawaki genau dies zum Ausdruck bringen.

Um es noch einmal deutlich zu machen: ich halte es für verdienstvoll, dass Brian Victoria versucht, die teilweise Mystifizierung und Glorifizierung des Zen zu hinterfragen und auch bei berühmten Persönlichkeiten wie zum Beispiel D.T. Suzuki nicht Halt macht. Allerdings ist Kôdô Sawaki nach meinem Urteil der falsche Meister, den er mit seiner Kritik überzieht. Durch ein direktes Gespräch mit Nishijima Roshi hätte er sich sicherlich ein objektiveres Bild dieses großen Zen-Meisters verschaffen können. Warum tat er das nicht? Dadurch wäre sein Buch wesentlich aussagekräftiger, wertvoller und verlässlicher für uns geworden.

In der 2010 herausgekommenen, ebenfalls validen Übersetzung des Shôbôgenzô von Kazuaki Tanahashi heißt der fragliche Text dieses Kapitels zum Vergleich in Englisch[8]

„Just set aside your body and mind, forget about them, and throw them into the house of Buddha; then all is done by the Buddha. When you follow this, you are free from birth and death, and become a Buddha without effort or scheme. Who, then, remains in the mind?

Weiter heißt es dort:

„In birth there is nothing but birth, and in death there is nothing but death. Accordingly, when birth comes, face and actualize birth, and when death comes, face and actualize death. Do not avoid them or desire them“.

Schließlich schreibt er: "This birth-and-death is the life of Buddha“.

Wenn Brian Victoria aus diesem Text die totale Unterwerfung unter den japanischen Kaiser und den Kriegsminister machen will, kann ich dem nicht folgen. Es bleibt allerdings die Frage, ob ihm dieses Kapitels überhaupt vorlag oder er darauf hingewiesen wurde und ob er es eigentlich als Material für sein kritisches Buch nutzen konnte?

Schließlich sollte auch in Betracht gezogen werden, dass in diktatorischen und dogmatischen Systemen zentrale Wahrheiten eventuell so verklausuliert werden müssen, dass sie der Zensur der Obrigkeit entgehen. Wie sicher bekannt ist, gilt dies zum Beispiel in der Mystik für Teresa von Avila und Meister Eckart. Aus meiner Sicht wählte Kôdô Sawaki in Bezug auf Dôgen nicht ein solches indirektes Verfahren: Seine Aussagen sind für mich eindeutig und unmissverständlich, so dass ich überzeugt bin, dass Brian Victoria sich bei der Bewertung der Haltung dieses großen japanischen Zen-Meisters zum Krieg gründlich irrt.



Schlussbemerkung: Brian Victoria hat ein politologisches und kritisch-soziologisches Buch geschrieben, das die historische Situation Japans des Zen im vorigen Jahrhundert selektiv beleuchtet. Dafür gebührt ihm trotz einiger irritierender Fehlinterpretationen und Vereinfachungen Dank. Aber es ist kein bedeutendes Buch zum Zen. Bei allem Fleiß des Autors sind die möglichen Schlussfolgerungen für den Zen-Buddhismus der heutigen Zeit und der Zukunft recht begrenzt. Dazu hätte ein wirklich fundierter Vergleich des damaligen Zen der ausgewählten Meister z. B mit der Praxis und Lehre Meister Dôgens durchgeführt werden müssen. Diese Aufgabe, die an Hand des Shôbôgenzô, der Schatzkammer des wahren Dharma-Auges und der Befragung von Zeitzeugen wie Nishijima Roshi und anderer, gut machbar gewesen wäre, hätte den Wert des Buches aus meiner Sicht ganz wesentlich erhöht.

Verweise zu spannenden Zen-Texten, bitte anklicken:

Verwirklichung des Lebens und des Universums
Zazen Meditation
Sein-Zeit des Augenblicks
Das große Erwachen
Buddhistische Gelöbnisse Teil 1 
  und Teil 2
Erzeugt kein Unrecht
Leben-und-Tod, die Befreiung im Buddhismus
Lotus-Sûtra


[1] Kosho Uchiyama: Kôdô Sawaki. Die Zen-Lehre des Landstreichers Kôdô. Angkor Verlag 2007
[2] Brian Victoria: Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz, Theseus 1999, S.62
[3] Kôdô Sawaki: An Dich. Zen-Sprüche, Angkor Verlag 2002 u. 2005
[4] G. W. Nishijima: Aus meinem Leben. Wirklichkeit und Buddhismus. DONA-Verlag 2010, S. 23 f.
[5] G. W. Nishijima: Aus meinem Leben, Wirklichkeit und Buddhismus, S. 23 f
[6]Brian Victoria: Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz, Theseus 1999, S.62
[7] Brian Victoria a.a.O., S. 63
[8] Kazuaki Tanahashi: Treasury of the True Dharma Eye (Shôbôgenzô), 2010, Band 2, Seite 885