Freitag, 24. Juli 2015

Auf dem Mittleren Befreiungs-Weg Nagarjunas, aber wie das?


(Yudo Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner)

Manche Interpreten des Mittleren Weges, MMK, untersuchen hauptsächlich Dinge und materielle Sachen, z. B. deren Merkmale und ihre Abhängigkeiten oder sie diskutieren abstrakt mögliche Wirklichkeits-Begriffe Nâgârjûnas. Sie fragen sich tiefgründig, ob die Dinge aus sich selbst entstanden sind und lehren uns, dass sie wieder vergehen. Aus der Sicht des Zen-Buddhismus sind solche Spekulationen wenig sinnvoll wenn nicht trivial, denn die Wirklichkeit wird nach Dôgen im Hier und Jetzt des Handelns und der Meditation erfahren. Wo und Wann denn sonst?

Seit einiger Zeit sind zudem Vergleiche mit der Quantenphysik zu finden, z. B. bei der Wechselwirkung innerhalb der Materie. Das mag einen gewissen Sinn für den Begriff der Leerheit haben; aber mir erscheint es effizienter zu sein, direkt bei Nâgârjûna nachzusehen, denn auf ihn geht der Begriff der Leerheit zurück, die für westliches Denken ohnehin schwierig ist und viel Futter für eigenartige Interpretationen bietet. Sie ist jedenfalls kein Nichts.
Denn es geht u. E. im Buddhismus um mehr als um Dinge, Materie und abstrakte Philosophien: Es geht vor Allem um die Menschen und deren Denken, Fühlen und Handeln, für sich selbst und für andere. Viele von uns leiden natürlich unter den Abhängigkeiten von materiellen Dingen und wollen vielleicht unbedingt mehr haben oder festhalten, was sie haben. Aber die wichtigsten Probleme entstehen im Menschen selbst und zwischen ihnen.

Dort setzen u. E. Buddha und Nâgârjûna an, um uns zu helfen, damit wir unsere
Mitte finden, zur Ruhe kommen und Freiheit oder Erleuchtung erlangen.

Für Gautama Buddha ist es vorrangig, dass wir uns selbst immer besser verstehen, uns also selbst „auf die Schliche kommen“ und lernen unsere instinkthaften unkontrollierten und unbewussten Wünsche, Sehnsüchte und Handlungen zu erkennen und zu steuern. Wir sollten gerade nicht in eine starke oder sogar totale Abhängigkeit von den bekannten buddhistischen Giften Gier, Hass und Verblendung geraten. Zur Verblendung zählen Ideologien, unheilsame Konzepte, Schuld-Zuweisungen, psychisch bedingte falsche Verknüpfungen von Wirkungen und Ursachen usw..

Der Achtfache Pfad Buddhas ist sehr praktisch formuliert und umfasst Bereiche des Erkennens und der Sichtweise, des Handelns, Redens, des rechten Geld-Erwerbs, der Ausdauer und der Achtsamkeit sich selbst gegenüber sowie nicht zuletzt der Meditation in verschiedenen Stufen der Vertiefung.

Was kann uns das MMK Nâgârjûnas  nun dazu geben und wie können wir diesen schwierigen Text verstehen und zum Sprechen bringen?

Damit wird ein enger Zusammenhang mit Gadamers Hermeneutik zur Entschlüsselung von wesentlichen Texten erkennbar, seine Aussage trifft genau diesen Punkt:„sich selbst verstehen“. Wir können und sollten bei der Analyse alter Texte wie des MMK, die auch heute Relevanz und große Bedeutung haben, genau in einen solchen Lern- und Veränderungsprozess eintreten, der uns erweitert, ändert und zum „Fließen“ bringt. Es geht also darum, dass

„der alte Text des MMK zu sprechen beginnt und in Wechselwirkung mit uns selbst eintritt“.
Aber wie kann sich das ereignen?

Wenn so etwas gelingt, ergeben sich ganz neue Erweiterungs- und Veränderungs-Prozesse für uns, die zu mehr Befreiung, Selbständigkeit, Eigensteuerung und damit Glück und Lebensqualität führen. Genau dies ist nach meinem Verständnis das große Ziel des Genies Gautama Buddha. Er hat sich nicht allein auf philosophischen Ebenen bewegt, hat sich nicht in abgehobene intelligente philosophische Diskurse verliebt, sondern hat auf der Grundlage seiner sehr pragmatischen Lebensphilosophie und seinem Verständnis des Lebens und der Welt ganz neue Wege entwickelt, die zur Befreiung und Überwindung von Abhängigkeiten, Ängsten und Hemmnissen führen.

 Dass diese von ihm entwickelten Ansätze von höchster Aktualität und Bedeutung für die Gegenwart sind, muss wohl nicht besonders betont werden, wir können es jeden Tag beobachten. Die überlieferten Religionen haben im Westen deutlich an Glaubwürdigkeit und Relevanz eingebüßt, wie die zunehmenden Kirchenaustritte belegen. Wir haben heute zwar ein hohes Maß an materieller Sicherheit und medizinischer Versorgung erreicht, aber bei den Aufgaben der Befreiung von psychischen und sozialen Ängsten, Restriktionen und Verhärtungen, die immer mehr in den Mittelpunkt gerückt wurden, sind wir noch nicht sehr weit gekommen. Elisabeth Steinbrückner und ich sind überzeugt, dass uns die „östlichen praktischen Lebens-Weisheiten“ des Buddhismus große Schätze zu bieten haben. Nun sollten wir daran gehen, sie mit heutigen Mitteln zu heben und zu nutzen.

Aus dem Sich-Selbst-Verstehen muss sich dann natürlich das Sich-Selbst-Verändern entwickeln. Dies ist allerdings nicht immer selbstverständlich, denn ein vom Körper getrennter Geist allein wird die tief greifende Veränderung von uns selbst kaum allein bewirken können. Es ist dann viel mehr zu befürchten, dass Körper, Geist und Psyche sich von einander weg bewegen und dadurch neue schwerwiegende Beeinträchtigungen für unser praktisches und spirituelles Leben entstehen.

Gadamer sagt dazu[1]:

Nicht nur das Verstehen und Auslegen, sondern auch das Anwenden des sich selbst Verstehen ist Teil des einen hermeneutischen Vorgangs.“

Als Philosoph betont er die Bedeutung der Sprache für die Hermeneutik und arbeitet in aller Deutlichkeit heraus, dass wir im Gespräch, beim Lesen und Interpretieren schon immer in der Sprache sind und in der Sprache leben:

„ Worauf es mir jedoch ankam, war die Sprachlichkeit des Menschen nicht nur der Subjektivität des Bewusstseins und der in ihr gelegenen Sprachfähigkeit zu überlassen ..., vielmehr habe ich das Gespräch ins Zentrum der Hermeneutik gerückt.“

Weiter sagt er sehr treffend:
„Es kommt nicht nur darauf an, von einander zu hören, sondern auf einander zu hören. Das ist Verstehen.“

Zu alten Texten, die anfangen zu reden, sagt er, dass es „durch die Teilhabe an der Überlieferung“ gelingen müsse, die Texte zu verstehen, zum Sprechen zu bringen und in den eigenen Lern- und Wachstumsprozess einzubringen. Das sind zweifellos auch Kernpunkte der Hermeneutik.

Hier liegt natürlich eine besondere Schwierigkeit der alten indischen Texte des Buddhismus, zum Beispiel von Nâgârjuna das MMK, das vor mehr als 1.800 Jahren formuliert wurde. Aber dabei gibt es auch Ähnlichkeiten zu unserer Sprache, die häufig unterschätzt werden: Sanskrit ist eine indogermanische Sprache, hat also dieselbe Wurzel wie die westlichen Sprachen zum Beispiel Latein, Griechisch und Deutsch. Es gibt dort also Verbindungen der Sprache, die zwar zum Teil verschüttet sind, aber durchaus relevant werden können. In einem anderen Zusammenhang spricht Gadamer von der „hermeneutischen Fantasie“ und dies sei „der Sinn für das Fragwürdige und das was es von uns verlangt“ [2].

Damit sind unseres Erachtens wesentliche Eckpunkte der Arbeit am MMK bezeichnet und in dieser modernen Philosophie enthalten. Die Hermeneutik ist nach weitgehender Übereinstimmung in der Fachwelt eine der bedeutendsten philosophischen Leistungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eng mit dem Namen Gadamer verbunden.

Ein Schwerpunkt des Buddhismus ist zweifellos die Veränderung und Entwicklung des eigenen Geistes. Sicher muss man heute unter Geist auch die Psyche verstehen, die in früheren Zeiten nicht vom Geist unterschieden wurde. Meistens ist bei der Ganzheit des Menschen von der Einheit von Geist und Körper die Rede, aber gemeint ist natürlich die Einheit von Körper, Geist und Psyche. Ich werde dies bei den weiteren Überlegungen auch so zu Grunde legen.

Besonders fruchtbar für eine Verbindung des Buddhismus, der wie bei Nâgârjuna die Wechselwirkung und die dabei möglichen Entwicklungen und Wachstumsprozesse in den Vordergrund rückt, ist aus meiner Sicht neben anderen die Gesprächstherapie von Carl R. Rogers[3], dessen Ansatz zur menschlichen Kommunikation weit über die eigentliche Therapie zwischen einem psychisch kranken Patienten und den Therapeuten hinausgeht.

Wenn die moderne Psychotherapie sich zum Ziel setzt, dass psychisch kranke Menschen „normal“ werden und im praktischen Leben ihren Alltag und ihre Lebens-Planungen meistern, so geht der Buddhismus weiter und fragt sich, ob das sogenannte normale Leben wirklich das bestmögliche ist, das von Schmerz und Leiden weitgehend befreit ist und die psychische Blockierungen des "Normalen" überwunden hat. Dass in der modernen Gesellschaft hierbei Kommunikationsprozesse von zentraler Bedeutung sind, wird sicher niemand bestreiten. Der bekannte Soziologe Niklas Luhmann hat daher zur Frage sozialen Gruppen folgerichtig die Kommunikation und deren Grenzen in den Mittelpunkt gestellt.[4]

Bei der Analyse des zentralen Begriffs pratitya samutpada, gemeinsames Entstehen in Wechsel-Wirkung, in der Präambel des MMK muss es daher darum gehen vor allen Dingen die Wechselwirkung zwischen Menschen in der Gruppe, aber auch zwischen Lehrer und Schüler genauer zu analysieren und mit den Erkenntnissen der modernen Psychologie in Verbindung zu bringen. Aus meiner Sicht bietet hierfür Carl R. Rogers eine gute Grundlage. Er sagt zum Beispiel, dass sich bei gelungenem Gespräch[5]

„eine neue Gestalt, ein revidiertes Selbst herausbildet. Diese neue Struktur ist nicht so rigide  und unflexibel (wie früher), sondern wandelt sich öfter, wenn Gefühle im Bewusstsein Raum finden.“

Dies sei eine Erfahrung des unmittelbaren Selbst und nicht „über das Selbst. (Denn) intellektuelle Einsicht allein reicht nicht aus.“ Wenn wir bei der Interpretation dieser Aussagen zunächst den im Buddhismus schwierigen Begriff des Selbst beiseite lassen und ihn insbesondere von dem Begriff und der Bedeutung des Atman der vor-buddhistischen Zeit ablösen, sind das in der Tat Aussagen, die durchaus in der buddhistischen Literatur wiederzufinden sind.

Rogers fährt fort:
Die neue Selbstgestalt ist eine fließende veränderliche Struktur, wobei das eigene Erleben immer mehr zur Grundlage der Selbstbewertung wird.
Schließlich „erscheint die Wahrnehmung des Selbst radikal gewandelt. Sie ist fließender, nicht mehr so starr und statisch. Das „Ich“ hat sich fast im Wahrnehmungsfeld verloren.“

Das heißt nichts anderes, als dass der Mensch nicht mehr eingezwängt ist in feste Strukturen und Vorstellungen des Ich, dabei unablässig um sich selbst kreist und die lebendige Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt weitgehend verloren hat. Im Gegensatz dazu hat sich ein Auflösungsprozess dieser schmerzhaften Starrheit ereignet und befreit den Menschen.

Nach meiner festen Überzeugung gibt es hierbei große Ähnlichkeiten mit dem Anliegen Gautama Buddhas und Nâgârjûnas. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass der Mensch die Fähigkeit entwickelt, seine eigenen Erfahrungen und Gefühle klar zu erkennen und ihnen freien aber selbst-gesteuerten Lauf lässt, ohne durch einengende Bewertungen sich von sich selbst zu entfremden. Der Mensch[6]

ist nicht mehr gekennzeichnet durch Entferntheit des Lebens und entdeckt dessen Sinn nicht erst aus großer zeitlicher Distanz“.

Hier ist also auch ein zentrales Anliegen des Zen-Buddhismus angesprochen: Das Erleben und Erfahren der vollen Wirklichkeit genau im Augenblick des Hier und Jetzt, also nicht als Erinnerung aus der Vergangenheit und nicht als Erwartung für die Zukunft. Die Unmittelbarkeit des Erfahrens und Erlebens ohne störende Strukturen, Konzepte, Vorstellungen und Bewertungen sind wesentlicher Teil des Befreiungsweges im Buddhismus.

Rogers fährt fort:

„Auf dieser Stufe fürchtet die Person sich nicht mehr davor Gefühle unmittelbar und gleich differenziert zu erleben, (vor Allem) in zwischenmenschlichen Beziehungen“.

Er sagt weiter : Der Mensch
akzeptiert sich selbst und vertraut auf seinen organismischen Prozess, der weiser ist als der Verstand allein (oder sein Körper allein). Jedes Erlebnis trägt seine eigene Bedeutung und wird nicht wie ein vergangenes Konstrukt interpretiert“.

Er beschreibt den Menschen als einen fortlaufenden offenen Prozess, ein Prozesskontinuum, das
„die Veränderung von einem starren zu einem fließenden Zustand erlebt. Es ist eine Beschreibung der Transformationen, die sowohl beobachtet wie erlebt werden können“.

Ich hoffe durch diese Zitate ist deutlich geworden, wie nahe buddhistische Aussagen der Befreiung und die Formulierungen des Psychologen Rogers zusammengehen. Wir werden bei der Interpretation des MMK an geeigneten Stellen darauf zurückkommen. Besonders möchte ich die enge Verbindung zum Zen-Buddhismus erwähnen, die Meister Dôgen in seinem berühmten Kapitel der Sein-Zeit tiefgründig und umfassend dargestellt hat[7].

Die volle Wirklichkeit, soweit sie überhaupt für einen Menschen erfahrbar ist, gibt es dabei nur im Augenblick, der allerdings nicht, wie es manchmal fälschlich heißt, radikal von der Vergangenheit und Zukunft abgetrennt ist. Eine solches Verständnis von „zerhackten“ unverbundenen Zeit-Partikeln des damaligen Buddhismus hat Nâgârjûna in aller Klarheit zurückgewiesen (Lehre der sog. Sautrantikas). Denn bei einer solchen radikal gedachten Abtrennung ist es zum Beispiel unmöglich, den Sinn eines Wortes oder eines Satzes überhaupt zu verstehen, weil es immer um einen Ablauf der Worte geht, die sich zu dem Sinn im Satz und im Gespräch zusammenfügen.

Bei abrupter Unterbrechung zwischen den Augenblicken wäre es zum Beispiel überhaupt nicht möglich, Melodien der Musik zu erkennen. Sie ist immer im Fluss und das volle Erleben des Augenblicks ist überhaupt nicht möglich, wenn er von der Vergangenheit der Melodie abgetrennt wird. Auch eine gewisse Erwartung und Ahnung in die Zukunft schwingt im Erleben und Erfahren des Augenblicks mit. Sie sollte allerdings nicht zum dominanten Gefühl werden, weil die Zukunft natürlich viele Unsicherheiten birgt und es wenig Sinn macht, sich in alle Einzelheiten hinein zu denken oder hineinzufühlen. Das muss zu Enttäuschungen führen. Zudem werden Gedanken an die Zukunft je nach emotionalem Zustand des Menschen stark von Gefühlen gefärbt, also zum Beispiel von Angst, Erwartungsdruck oder auch Euphorie und Illusionen. All das ist nach Gautama Buddha eher schädlich und erhöht die Leidens-Wahrscheinlichkeit des Menschen.

Rogers entwickelt aufgrund seiner eigenen Erfahrungen der Therapie sehr genaue Methoden zur Frage der Wechselwirkung zwischen Menschen und stellt dabei in den Vordergrund, dass es keine Unterdrückung, Bevormundung, Erniedrigung oder dergleichen geben darf. Gespräche müssen offen für die Zukunft sein und basieren auf kreativen gemeinsamen geistigen und psychischen Prozessen der Teilnehmer.

Wenn es sich um ein Gespräch zwischen Lehrer und Schüler handelt, sind dabei an den Lehrer besonders hohe Anforderungen zu stellen. Der Lehrer muss bereit sein, eigene Fehler zuzugeben, eigene Begrenzungen klar zu legen, aber auch Ehrlichkeit in Bezug auf seine eigenen Gefühle übermitteln. Dadurch entsteht ein Grundvertrauen, das notwendig ist für jeden kreativen Kommunikationsprozess auf beiden Seiten. Ob das bei allen buddhistischen Lehrern und Lehrerinnen immer der Fall ist, muss wohl leider bezweifelt werden.

Besonders möchte ich hervorheben, dass die Überwindung und „das zur Ruhe kommen“ von Schmerzen und Leiden ein hoch kreativer Prozess ist, der nur gelingt, wenn ein wachsendes Vertrauen zu sich selbst, zum eigenen Können und zum Lehrer wirksam ist.

Wir kommen damit zu einem wesentlichen Aspekt der Wechselwirkung von pratitya samutpada: notwendig ist die unbeschränkte menschliche Anerkennung des jeweils anderen und die Ermutigung im Gespräch zu eigenen Gefühlen und eigenen Vorstellungen. Ich habe daher durchaus Bedenken, ob die im Buddhismus üblichen Begriffe „Belehren“ oder „Unterweisung“ geeignet sind, einen zeitgemäßen Buddhismus im Westen zu kennzeichnen. Beide Begriffe unterstellen aus meiner Sicht, dass es darum geht, ein bestimmtes Wissen, das zum Beispiel durch die buddhistische Tradition vorgegeben ist, einfach und unidirektional an den Schüler zu übermitteln, ihn also zu belehren und zu unterweisen.

Das kennzeichnet jedoch nicht den eigenen Befreiungs-Prozess und -Weg, der nur vom Menschen selbst aus sich selbst erfolgen kann. Ein Lehrer sollte dabei eher Helfer und Coach sein, als dass er von oben herab die angeblich unbezweifelbare buddhistischen Lehren verkündet, die der Schüler dann zu lernen und auswendig wiederzugeben hat. Buddhismus ist immer auch und vor Allem eigene Erfahrung und keine Belehrung und Unterweisung.

Der Zen-Meister Dôgen betont mit Nachdruck , dass Wissen und Intellektualismus allein nicht ausreichen, um den Buddhismus „zu verstehen“. Nishijima Roshi spricht gern von intuitiver Vernunft anstatt Denken und Fühlen. Im Shôbôgenzô verwendet Dôgen, wie in der buddhistischen Lehre durchaus üblich, gern den Begriff höchstes Wissen (prashna paramita). Dieses höchste Wissen ist aus der Erfahrung selbst zu entwickeln. Es verwendet zwar die schriftlich aufgezeichnete buddhistische Lehre oder die mündlich übermittelten Weisheiten, Gleichnisse oder Kôans, aber eigenes Erkennen und Erfahren kann kaum auf diese Weise übermittelt werden: es muss aus der eigenen Individualität und dem eigenen Karma entstehen. Dies ist aus meiner Sicht die zentrale Aussage des Entstehens in Wechselwirkung, hier für zwei Menschen oder in einer Gruppe der Kommunikation.

Ich möchte nicht verschweigen, dass im Buddhismus die zentrale Frage der Individualität des Menschen oft unscharf und verschwommen bleibt. Allein durch die ganz individuelle Entwicklung unseres Gehirns, also des neuronalen Netzes, von der Phase der Vorgeburt bis zum späten Alter ergibt sich, dass jeder Mensch eine unverwechselbare Individualität hat. Der Gehirnforscher Manfred Spitzer spricht davon, dass jeder Mensch im gesamten Universum ein Unikat ist. Diese Aussage ist gerade mit der Karma-Lehre voll in Einklang zu bringen, denn das was man ganz individuell erfährt und tut, kann niemals identisch sein mit dem Tun eines anderen Menschen. Allein in einem einzigen Leben, wenn man einmal die Wiedergeburt aus der Überlegung ausklammert, ist das Leben unverwechselbar, weil die Konstellationen, Kontakte, Einflüsse, das eigene Erleben, die eigene psychische und geistige Entwicklung und Wechsel-Wirkung jeweils einzigartig ist.

Selbstverständlich gibt es für ein gelungenes oder wie es im Buddhismus heißt erleuchtetes Leben auch allgemeine Prinzipien, die sich mit der Individualität verbinden, also eine Wechselwirkung eingehen. Auf diesen Grundsatz geht übrigens Meister Dôgen bei der Beschreibung der großen buddhistischen Meister immer wieder ein. Sie seien als „Persönlichkeit“ sehr unterschiedlich, um nicht zu sagen, radikal verschieden, hätten aber durch die Verwirklichung im buddhistischen Sinne große Gemeinsamkeiten und gleiche Erlebnis- und Denkwelten und damit sogar unauflösbare Verbindungen unter einander.

Die wichtige Frage, wann und wie es sinnvoll ist, etwas zu bewerten und zu urteilen, möchten wir später bei der Untersuchung der einzelnen Kapitel des MMK noch im Einzelnen behandeln. Dass man völlig ohne alle Bewertungen überhaupt leben kann, wie es manchmal fälschlich im Buddhismus gesagt wird, erscheint mir utopisch und unrealistisch. Auch die Gehirnforschung weist nach, dass ein gesundes Leben ohne einen Anteil an Bewertungen gar nicht möglich ist. Die Erfahrungen jedes einzelnen Menschen bilden genau diesen Erfahrungsschatz, ohne den man überhaupt nicht existieren kann.

Von entscheidender Bedeutung ist jedoch, ob Bewertungen zu Abhängigkeiten, Anhangen und Bedingtheiten führen, die Gier, Hass und Verblendung zur Folge haben. Es geht also um heilsame und unheilsame Bewertungen und nicht um eine idealistische oder dogmatische Ablehnung aller Bewertungen überhaupt. Dieses wäre eine ontologische Aussage, die für praktischen Buddhismus unbrauchbar und lebensuntauglich ist. Weiterhin ist wichtig, dass die jeweiligen Bewertungen dem Bewusstsein, der Selbst-Reflexion und überhaupt dem Geist zugänglich sind und dass „es auch anders sein kann“. Diese geistige Freiheit und psychische Beweglichkeit bei maßgeblichen Bewertungen zeichnet sicher den Menschen gegenüber dem fest programmierten instinkthaften Verhalten von Tieren aus: Wie Georg W. Bertram in seiner Vorlesung an der FU Berlin über Hegel im Sommer 2015 sagte: „Der Mensch ist nur ein Roboter", wenn er ohne Selbst-Reflexion lebt und kein Verhalten zu sich hat.

Er rennt dann immer wieder zyklisch in sein eigenes Unglück. Dann ist auch keine symmetrische Kommunikation zweier Menschen nach Hegel möglich, die sich anerkennen und achten. Ein solcher programmierter Mensch hat keinerlei Freiheit in seinem Handeln und Entscheidungen: er lebt nach Hegel bedingt. Ziel sei aber unbedingt zu denken und zu handeln.

Wir verstehen Nâgârjûnas Interpretation des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung, pratitya samutpada, ganz ähnlich: gerade nicht abhängig zu sein, kein Anhangen zu haben und ohne Bedingungen zu denken, fühlen und zu handeln, aber gleichwohl in die Wechselwirkung und Vernetzung eingebunden zu sein. Damit ist u. E. im Einklang mit dem Buddhismus zugleich ein moderner umfassender Freiheitsbegriff gekennzeichnet, der als Leerheit von solchen Bedingtheiten verstanden werden sollte.

Innerhalb des wechsel-wirkenden gemeinsamen Entstehens kommt es darauf an, sich einen Freiheitsraum für Denken, Reflektieren, Fühlen, Bewerten und Entscheiden zu schaffen, der Schmerzen und Leiden zur Ruhe kommen lässt. Genau das sagen die Vier Edlen Wahrheiten und der Achtfache Pfad.

Daraus wird allerdings auch deutlich, dass im Buddhismus zweifellos noch Klärungen und Bereinigungen wichtiger Schlüsselbegriffe notwendig sind.
Dazu möchten wir mit unseren Arbeiten zu Nâgârjûnas MMK einen Beitrag leisten.

Im Rahmen des Buddhismus darf auf keinen Fall vernachlässigt werden, dass Ethik und Moral zentrale Bedeutung für ein glückliches und befreites Leben haben. Nicht zufällig verwendet Gautama Buddha beim Achtfachen Pfad den Begriff rechte Sichtweise, rechte Entscheidung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebens-Erwerb, bis hin zur rechten Achtsamkeit und rechten Meditation. In diesem Begriff "recht" steckt nach meiner festen Überzeugung, die zum Beispiel auch Peter Gäng, der dieses Sûtra übersetzt hat, teilt, die Bedeutung von richtig und auch ethisch korrekt[8]. Das heißt nichts anderes, als dass der Weg der Befreiung und Erleuchtung nur bei ethisch einwandfreiem Handeln gegangen werden kann.

Gerade bei der Moral sind natürlich extreme Übertreibungen zu vermeiden, die zu Ideologien und Erstarrungen führen oder sogar in die Extreme der Askese und Welt-Entsagung gehen. So etwas hat Gautama Buddha als unbrauchbar erkannt und deutlich abgelehnt. Hier ist der Mittlere Weg das Richtige: die Vermeidung von Extremen, der Nachlässigkeit und Selbstsucht einerseits und der selbst-zerstörerischen und selbst-quälenden Askese andererseits.

Bekanntlich erlebte Gautama Buddha die Erleuchtung, als er diese Extreme des Geistes und des Körpers beendete, wieder normale Nahrung aß, mit Freude trank, normal schlief und sich dann

die volle wunderbare Wirklichkeit des Lebens und der Welt für ihn jäh und unerwartet eröffnete, als er den strahlenden Morgenstern wirklich erblickte.






[1] Dutt, Carsten (Hrsg.): Hans-Georg Gadamer im Gespräch, 10 ff
[2] ebd., S.17
[3] Rogers, Carl R.: Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächstherapie.
[4] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie.
[5] Rogers, Carl R.: Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächstherapie, S. 143 ff
[6] ebd., S. 149
[7] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, Bd. 1, S. 135 ff.
[8] Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I